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Die Hauptstadt der Utopien

Von Rudolf Teltscher

Reflexionen

Im Wien der Jahrhundertwende entstanden vier literarische Zukunftsvisionen, die ideale Staaten zu entwerfen suchten. Im Detail unterschieden sich die Konzepte jedoch erheblich.


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Der zionistische Visionär Theodor Herzl veröffentlichte 1902 den Roman "Altneuland", in dem der Staat als große Genossenschaft konzipiert wurde.
© Foto: Bettmann/Corbis

Die Autoren Josef von Neupauer, Theodor Hertzka und Theodor Herzl schufen zwischen 1890 und 1902 in Wien vier höchst unterschiedliche Utopien - eine von ihnen, nämlich Herzls "Altneuland", erlebte sogar eine Umsetzung in die Realität.

Der Kommunismus

Der Ausdruck "Kommunismus" wird in allen vier Büchern verwendet, wenngleich mit ganz unterschiedlichem Stellenwert. Josef von Neupauer präsentiert 1893 in seinem Buch "Österreich im Jahre 2020" einen Staat mit kommunistischer Gesellschaftsordnung: Privateigentum ist abgeschafft, Boden, Gebäude, Produktionsmittel sind Gemeineigentum. Verpflegung erfolgt in öffentlichen Speisesälen - natürlich gratis. Geld ist nicht mehr in Verwendung, auch Reisen in Österreich sind kostenlos. Die Wirtschaft des Reiches wird streng zentralisiert geleitet, auch Kleinigkeiten unterliegen der behördlichen Entscheidung. Der Kaiser ist oberster Wirtschaftskapitän, die Beamtenschaft untersteht ihm und ist gewissermaßen Managercorps.

In Hertzkas "Freiland" (1890) sind die Verhältnisse gänzlich andere. Privateigentum an Boden und Produktionsmitteln existiert zwar ebenfalls nicht, jedoch Privatbesitz an Häusern, die selbst genutzt werden und nicht vermietet werden dürfen, ist normal.

Geld ist auch in Freiland nicht in Verwendung, da alle Zahlungen bargeldlos über die "Centralbank" abgewickelt werden, auch die nötigen Einkäufe in den Warenhäusern. Das System versteht sich aber keinesfalls als kommunistisch, im Gegenteil: es ist ausdrücklich antikommunistisch, da es "absolute individuelle Freiheit" verwirklicht.

Kommunismus ist im zweiten Buch von Hertzka, "Entrückt in die Zukunft" (1893), ein Thema; es geht auf die Rolle unterschiedlicher Richtungen nach der Revolution ein, wobei die strikteste kommunistische Richtung, merkwürdigerweise "Sozialdemokraten" genannt, eine wichtige Rolle gespielt hat, bevor die Entwicklungsrichtung der Gemeinschaft definitiv gegen die "Sozialdemokraten" festgelegt wurde. Die Schilderungen Hertzkas über die Politik dieser radikalen Richtung erinnern stark an die KPdSU in der nachrevolutionären Periode.

Alles gehört allen

In der Zeit, in der der Roman "Entrückt in die Zukunft" spielt, ist Privatunternehmertum kein Thema mehr. Der Boden gehört der ganzen Menschheit, die Produktion hat Ausmaße angenommen, die ein Privateigentum an Produktionsmittel ausschließen. Alles gehört allen.

Im "Altneuland" von Theodor Herzl aus dem Jahr 1902 ist der Boden herrenlos, Privateigentum und Privatunternehmertum sind willkommen und spielen neben den Genossenschaften eine wichtige Rolle. Von Kommunismus ist nichts zu spüren, wäre ja auch schwer vorstellbar, da das gesamte Gebiet von Altneuland unter der Oberhoheit des türkischen Sultans steht.

Genossenschaften sind die Basis von Freiland, wo sie die einzige Produktionsform darstellen. Sie bilden sich für alle Lebensbereiche - so gibt es Dienstleistungsgenossenschaften, die die sonst zur Entstehungszeit des Buches üblichen Dienstboten ersetzen, landwirtschaftliche und industrielle Genossenschaften. Privatunternehmer wären zwar theoretisch möglich, sehen aber offensichtlich in der Genossenschaftsgesellschaft für sich keine Erfolgschancen.

Die Anfangsfinanzierung der Genossenschaften erfolgte durch die gründende Gesellschaft, die alle Anfangskosten, von der Anreise und Niederlassung, vom Bau der zu Beginn unumgänglichen Verkehrsverbindungen etc. trug. Nach Gründung der "Centralbank" lief die gesamte Finanzierung der Genossenschaften über diese. Und im Hintergrund steht lange die Gesellschaft.

Die Kreditrückzahlung hat bei der Gebarung der Genossenschaften Vorrang vor der Anteilsausschüttung an die Genossenschafter. Der einzige, nicht von der genossenschaftlichen Struktur erfasste Bereich ist Privatleben und Wohnen. Die Genossenschaften sind das tragende Element der Gesellschaft in Freiland.

Vorbild für den Kibbuz

Genossenschaften spielen auch in Hertzkas "Entrückt in die Zukunft" eine wichtige Rolle, desgleichen in Herzls "Altneuland", wo sie aber nicht wie in "Freiland" die singuläre Form des Wirtschaftens darstellen. "Altneulands" Palästina ist eine Genossenschaft, ursprünglich war es Aktiengesellschaft, die umgewandelt wurde. In der teilrealisierten Utopie Herzls in Israel sind die Kibbuzim ein klarer Rückgriff auf die genossenschaftlich organisierten Dörfer der Utopie.

In Altneuland bestehen Genossenschaften und Privatunternehmen parallel. Privateigentum ist jedoch in einem Punkt nicht gegeben. Grund und Boden können nur gepachtet werden und fallen im "Jubeljahr" (alle 50 Jahre) an die Gemeinschaft entsprechend alttestamentarischen Regelungen zurück.

Die Genossenschaften werden als wesentlichstes Element der Wirtschaftsstruktur Altneulands bezeichnet. Sogar die Zeitungen gehören Genossenschaften, die von den Abonnenten gebildet werden, deren Abonnementgebühren Einlagen in die Genossenschaft darstellen. Einnahmen aus dem Inseratengeschäft gehen an die Genossenschafter (Abonnenten). Die Redaktion ist geschäftsführender Ausschuss.

Dieser utopische Entwurf der Jahrhundertwende ist dem Buch "Der Zukunftsstaat" entnommen, das Friedrich Eduard Bilz 1904 in Leipzig veröffentlicht hat.
© Abbildung: Wikimedia

Prinzipiell gilt für Altneuland: "Wir sind kein Staat, wir sind eine Gemeinschaft in neuen Formen, wir sind eine große Genossenschaft, innerhalb derer es wieder eine Anzahl kleiner Zweckgenossenschaften gibt."

In "Österreich im Jahr 2020" wird festgehalten, dass sich Genossenschaften nicht bewährt hätten, und zwar wegen Interessenskonflikten zwischen einzelnen Produktionszweigen, daher ist diese Utopie genossenschaftsfrei, was durch die umfassende staatliche Wirtschaftslenkung auch möglich ist.

Monarchie und Utopie

Neupauers "Österreich im Jahr 2020" ist noch immer eine Monarchie mit einem Habsburger als Kaiser. Es gibt ein allgemeines Stimmrecht ab 19 Jahren. Da Österreich die gleichen Ausmaße wie am Ende des 19. Jahrhunderts hat, ist es von unterschiedlichen Nationalitäten bewohnt.

Trotz der Wichtigkeit der Beamten und ihres Chefs, des Kaisers, kann die Staatsverwaltung nicht wirklich frei verfahren, sondern nur nach dem Volkswillen. Das sichern auch die gewählten Tribunen, die den Beamten zur Seite gestellt sind. Der kommunistische Gedanke prägt das gesamte Staatswesen, das durch die Verstaatlichung des Besitzes von dem Klassen- in einen Volksstaat verwandelt worden war.

Die Regierungsform in Österreich stellt sich als höchst zentralisierte dar, auch die Wirtschaft ist diesem System unterworfen. Insgesamt handelt es sich um eine völlig ungewöhnliche und beispiellose Kombination von Kommunismus und Monarchie.

Die Regierungsform im Weltstaat in "Entrückt in die Zukunft" ist strikt demokratisch mit zehn Fachparlamenten, die den zehn Verwaltungszweigen zugeordnet sind. In diese Fachparlamente werden nur jeweils sachverständige Personen entsandt.

Auch Hertzkas Freiland ist demokratisch aufgebaut, der "Zen-tralausschuss" nimmt parlamentarische Aufgaben wahr. Zum Unterschied vom anderen Utopie-Roman Hertzkas sind nicht zehn, sondern zwölf Fachparlamente aktiv, die Wähler der einzelnen Parlamente sind nach fachlicher Qualifikation zugeteilt. Gleichheit wird wie im Weltstaate im anderen Roman Hertzkas durch gleiche Erziehung und Bildung grundgelegt. Herzls Altneuland ist ebenfalls demokratisch organisiert, es ist ausdrücklich keine Plutokratie; Parteien existieren.

Bezugspunkt Europa

Europa spielt in allen vier Utopien eine wichtige Rolle:

Bei Neupauer durch das Vereinigte Europa mit vereinigten europäischen Streitkräften; erfreulicherweise gehört auch Russland diesem Staatenverbund an, England hält sich jedoch heraus (man fühlt sich ein wenig an die Gegenwart erinnert).

Bei Hertzka in "Freiland" als Ursprung der Freilandgründung und als Herkunftskontinent der Freiländer. Freiland steht somit in der kulturellen europäischen Tradition, auch wenn es sich ganz wesentlich von der europäischen Realität abhebt.

In "Entrückt in die Zukunft": spielt Europa als geistige Quelle des Buches eine überragende Rolle; die europäische geistige Grundlage kann nicht übersehen werden (auch nicht in der Auseinandersetzung mit der "Sozialdemokratie").

"Altneuland" ist ähnlich kons-truiert wie Hertzkas "Freiland": eine Gesellschaft in Europa ist Gründer und Organisator. Hervorgehoben werden der europäische kulturelle und technische Einfluss auf Gründung und Betrieb des Landes sowie die engen verkehrstechnischen Verbindungen. Die Motivation zur Gründung Altneulands stammt zumindest teilweise auch aus Europa.

Die Frage der Eigentumslosigkeit ist eine zentrale Frage in allen vier Büchern. Bis auf "Altneuland" herrscht in den beschriebenen utopischen Ländern weitestgehende Eigentumslosigkeit - natürlich in Abstufungen. Gemeinsam ist allen vier Werken, dass Grund und Boden keine Privateigentümer mehr haben, vielmehr eigentümerlos sind oder der Gemeinschaft gehören.

Mit Ausnahme der Privatunternehmer in "Altneuland" sind in allen vier Büchern auch die Produktionsmittel nicht im Eigentum der Nutzer, sondern gehören der Allgemeinheit, selbst im Genossenschaftsland "Freiland". Dass im kommunistischen Land Österreich Privateigentum ausgeschlossen ist, ist selbstverständlich, wenn einem sogar das Essen gratis zur Verfügung gestellt wird. Im antikommunistischen Freiland sind wenigstens die Wohnhäuser samt Einrichtung Privateigentum. Im Weltstaat in "Entrückt in die Zukunft" hätte privates Unternehmertum wenig Sinn.

Die Rolle der Technik kann in allen vier Utopien nicht hoch genug angesetzt werden. Am niedrigsten technisiert ist das Kaisertum Österreich, hier spielt der technische Stand der Entstehungszeit eine große Rolle, obwohl Fortschritte ebenfalls zu verzeichnen sind; so wird die Straßenbahn in Wien pneumatisch betrieben.

In Freiland ist schon ein gewaltiger technischer Fortschritt gegenüber der Entstehungszeit des Buches festzustellen: durch die Technisierung war es möglich, im Zeitraum von 25 Jahren die tägliche Arbeitszeit auf fünf Stunden zu reduzieren. Der Verkehr ist zur Gänze motorisiert. Der hauptsächliche Produktionszweig ist die Produktion von Maschinen.

Altneuland ist ebenso stark technisiert, hier spielt die Elektrizität eine ganz wesentliche Rolle. Antriebskraft für alle Maschinen in "Entrückt in die Zukunft" ist der Erdmagnetismus, der eine unerschöpfliche Energiequelle darstellt; auch die Reise zum Mond wurde so ermöglicht.

Theodor Hertzka-Porträt aus dem Buch "Freiland".
© Foto: Wikimedia

Alle vier Utopien widmen dem Verhältnis der Geschlechter hohe Aufmerksamkeit und treffen dafür neue Regelungen. Dem bürokratischen Charakter des Kaisertums Österreich entspricht, dass für das weibliche Geschlecht eigene "Frauencurien" ins Leben gerufen wurden, die der Interessensvertretung von Mädchen und Frauen dienten.

"Freiland" ist in der Geschlechterfrage konservativ: Frauen betreuen den Haushalt und die Kinder, ihre Hauptaufgabe ist die Pflege des Schönen und die geistige und körperliche Entwicklung des Nachwuchses. Die Frauen werden als gleichberechtigt bezeichnet. Im Weltstaat Hertzkas brauchen die Frauen nicht zu arbeiten, in Herzls Altneuland sind die Geschlechter gleichberechtigt.

Die Bildungspolitik ist in den Utopien egalitär orientiert, schon im Kindesalter ist die Entstehung von Klassenunterschieden auszuschließen. Der Unterricht bringt Kinder aus unterschiedlichsten Familien zusammen; der gemeinsame Unterricht dauert in Österreich bis zum 18. Lebensjahr; in Freiland bis zum 16.

Landesverteidigung ist im Weltstaat hinfällig. Im vereinigten Europa Neupauers ebenfalls (Österreich stellt nur einen kleinen Teil der europäischen Verteidigungskräfte). In Freiland existiert kein Heer (ein Ersatz sind intensive Leibesübungen für Kinder und Jugendliche). Da Altneuland Teil des türkischen Reiches ist, verfügt es auch nicht über eine Streitmacht und lebt in Frieden mit seinen Nachbarn.

Sorglos und fröhlich

Einkommensunterschiede und unterschiedliche Lebensstile gibt es in allen vier Utopien, obwohl in dreien davon der Trend zur Gleichheit geht (nicht in "Altneuland"). Die unterschiedlichen beruflichen Stellungen und Verantwortungen bringen auch Unterschiede beim Einkommen mit sich, die zu mildern sich alle Autoren bemühen.

Die Parallelen zwischen früheren Utopien und den angeführten österreichischen sind vielfältig: So führt Hertzka in "Entrückt in die Zukunft" als Lebenszweck "Belehrung und Vergnügen" an. Dieser Frage widmete auch schon "Utopia", die klassische Zukunftsvision von Thomas Morus, große Aufmerksamkeit. Auch hier soll das Leben sorglos und fröhlich geführt werden; alle unsere Handlungen zielen auf Lust als Endzweck und die eigentliche Glückseligkeit. Als Glück des Lebens bezeichnet Morus einmal Freiheit und Pflege des Geistes. In dieser Tradition stehen auch die Wiener Utopien.

Rudolf Teltscher, geboren 1944, dissertierte 1967 über die Utopien der Renaissance und hat sich intensiv mit der Utopie des Marxismus auseinandergesetzt.