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"Die Haushalts-Autonomie eines Staates ist der Prüfstein"

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Der deutsche Verfassungsexperte Florian Becker zum Karlsruher Urteil.


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"Wiener Zeitung":Die meisten Verfassungsexperten erwarten ein positives Urteil des deutschen Verfassungsgerichts kommende Woche. Positiv für den Fiskalpakt und den Euro-Rettungsfonds ESM. Wäre es aber auch positiv für Deutschlands Verfassung?Florian Becker: Ich halte den Rettungsfonds in der aktuellen Ausgestaltung wie er dem Gericht vorliegt, für verfassungswidrig, und viele meiner Kollegen tun es auch. Doch bislang hat das Gericht in den meisten europapolitischen Urteilen eine "Ja, aber"-Entscheidung getroffen. Es hat grünes Licht gegeben, doch Bedingungen gestellt. Das Signal an die Politik war: "Eigentlich geht es nicht, wie ihr das macht, doch unter bestimmten Voraussetzungen stimmen wir zu."

Wie könnten diese Bedingungen aussehen?

Es gäbe die Möglichkeit, die Verträge so zu gestalten, dass jede Entscheidung, die im Rettungsfonds getroffen wird, deutsche Zustimmung benötigt. Die Repräsentanten müssten also auftragsgebunden wirken. Wahrscheinlich ist auch, dass die Mitwirkung des Parlaments, zumindest des Haushaltsausschusses, eingefordert wird.

Wo liegt also die Gefahr, die ein positives Urteil birgt?

Die Haushalts-Autonomie eines Staates ist der Prüfstein. Die Frage ist, wie viel Einfluss wir einem Gremium wie dem Rettungsfonds auf den deutschen Haushalt gewähren. Wenn andere ohne unsere Mitwirkung bestimmen können, wofür wir unser Geld ausgeben, dann ist es mit der deutschen Souveränität vorbei. Und wenn wir auf einmal mit 250 Milliarden Euro Verbindlichkeiten dastehen, die wir in den Fonds eingezahlt haben, und andere Staaten fallen auch noch aus, deren Haftung wir dann mitübernehmen müssen, dann ist das sehr wohl ein existenzielles Problem für Deutschland.

Mit mehr als einem Viertel der eingezahlten Mittel hat Deutschland Sperrminorität...

Der Verlust von Souveränität ist nicht sofort bemerkbar, zumal die Strukturen des ESM geändert werden können. Auch die Europäische Zentralbank erodiert soeben durch den Ankauf von Staatsanleihen ihre Rechtsbindung, ohne dass wir unmittelbar etwas tun können. Es könnte sein, dass wir in zehn Jahren rückblickend sagen, dieses Urteil hat dazu beigetragen, den Rubikon zu überschreiten.

Wäre es denn so schlimm, die Haushaltspolitik auf eine europäische Ebene zu bringen?

Das ist eine politische Frage. Aus deutscher Sicht aber setzte dies eine Verfassungsänderung voraus.

Wird es daher eine verfassungsrechtliche Debatte geben, mit Rufen nach einer Volksabstimmung?

Die hat bereits begonnen. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat schon vor ein paar Monaten die Diskussion eröffnet, ob nicht ein Referendum über eine neue Verfassung notwendig wäre. Deutschland müsste dann entscheiden, ob es mehr denn je ein Gliedstaat einer Gemeinschaft sein will.

Orten Sie größeren politischen Druck auf die Verfassungsrichter als bisher? Die Aufregung vor dem Urteil ist auch in Brüssel groß.

Es ist ja auch eine wichtige Entscheidung, wie jedes Mal, wenn es um qualitativ neue Schritte in dem Verhältnis von Integration und Verfassung geht. Und die Aufregung war in den meisten europapolitischen Fragen groß. Darin schwang immer mit, dass Deutschland Sand ins Getriebe bringen würde.

Eine umgekehrte Spekulation zum Schluss: Was würde es bedeuten, wenn das Verfassungsgericht den Rettungsfonds ablehnt?

Die Welt würde nicht stehenbleiben. Und die Befürchtungen, dass dem Euro automatisch der Garaus gemacht wird oder die gesamte Europäische Union zerbricht, teile ich nicht. Allerdings würde der Druck auf die Schuldnerländer erheblich steigen, vielleicht sogar bis hin zu einem Ausscheiden aus der Euro-Zone.

Zur Person



Florian Becker ist Professor für Öffentliches Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.