Millionen von Europäern sind tätowiert. Damit ist eine Tradition aus anderen Teilen der Welt zur Massenerscheinung der westlichen Kultur geworden. Doch warum?
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Sie lassen sich symbolisch vom Krokodil fressen und wieder ausspucken, weil sie dem Tier ähnlich sein wollen. Jeden Schnitt, den die Rasierklinge auf ihrer Haut hinterlässt, denken die Mitglieder vom Stamm der Kaningara als Zähne des gefährlichen Reptils. Auf ihrer Brust, dem Bauch und dem Rücken verteilt sich das Muster der Einschnitte. Es ist ein blutiger Kult, den die Jungen in Papua Neuguinea am Fluss Sepik erdulden. Doch auf diese Weise saugen sie die Kraft des Krokodils in sich auf und ihre vernarbte Haut gleicht schon bald der des verehrten Tiers.
Die schmerzhaften Skarifizierungen der Krokodilzeremonie sind bis in die Gegenwart der Höhepunkt eines langwierigen Übergangsrituals. Es dauert rund zwei Monate, bis aus Knaben Männer werden. In dieser Zeit ziehen sich die Anwärter ins Geisterhaus zurück. Von den Älteren lernen sie alles über den spirituellen Schatz ihrer Ahnen und müssen immer wieder ihre Stärke beweisen.
Dazu gehört am Ende auch das blutige Ritzen der Ziernarben. "Keiner der Eingeweihten vergisst jemals, was er im Geisterhaus erlebt hat", erklärt der amerikanische Anthropologe Lars Krutak, "denn jeder der Männer war mit seinem eigenen Tod konfrontiert und ist ihm nur knapp entronnen."
Mythen, Rituale und Weisheitslehren
Die Haut, mit 1,6 Quadratmetern das größte menschliche Organ, bietet reichlich Platz für die menschliche Fantasie: Überall auf der Welt finden sich Kulturen, in denen Menschen ihre Haut ritzen oder stechen, ihren Körper modellieren. Obwohl viele dieser Traditionen heute nicht mehr oder nur noch teilweise praktiziert werden, prägten sie das soziale und religiöse Leben der entsprechenden Gesellschaft entscheidend: In Polynesien, so schreibt der Anthropologe Krutak, glaubte man, dass der Tattoo-Spezialist unter dem Schutz der Götter arbeite und die allgegenwärtige Kraft mana kon-trolliere.
Jeder Tätowierer musste sich einer langen Ausbildung unterziehen und erlernte dabei ein großes Repertoire an Ritualen, Liedern und Mythen. Erst danach hatte er die Fähigkeit, seinen Klienten Tattoo-Muster auf die Haut zu stechen, die das mana des Klienten verkörperten. Auf der Insel Samoa, so Krutak, umhüllten stilisierte Naturmotive, Tausendfüßler, Muscheln oder Vögel die Haut wie ein göttlicher Schutzschild.
Doch was hat eine solche Tradition mit der heutigen westlichen Kultur zu tun? In Europa gibt es mittlerweile Millionen Tätowierte. Das Wort "Tätowierung" stammt übrigens von dem polynesischen Wort "ta tau" ab, was soviel wie "korrekt oder kunstvoll gemacht" bedeutet.
Die europäische Art, die Haut zu stechen
Die spirituelle Dimension der polynesischen Tätowierung ist uns aber fremd. Unsere Gesellschaft kennt keine Tradition, in der tätowierte Haut göttliche Inspiration vermittelt. Ganz im Gegenteil, bis vor wenigen Jahrzehnten galt die Tätowierung als Merkmal Krimineller, Seefahrender oder der grellen Welt der Schausteller, also durch und durch halbseiden. Unwahrscheinlich, dass es sich bei den Millionen Tätowierten, insbesondere jungen Menschen, um zwielichtige Gestalten handelt. Doch wann hat bei uns die Kunst des Tätowierens Aufschwung bekommen? Warum lassen sich immer mehr Menschen die Haut verzieren?
Auch in Europa sind Tätowierungen schon seit Jahrhunderten bekannt. Allerdings waren sie anders als in Polynesien zunächst wenig kunstvoll und nicht zur Betrachtung gedacht. "Man praktizierte den Hautstich in Europa, aber man sah ihn nicht", schreibt Stephan Oettermann in einer Abhandlung über die europäische Geschichte der Tätowierung.
Er fand Belege dafür, dass man in Europa vor allem zum Zweck der Identifizierung tätowierte. Etwa Kreuzritter, die sich im Falle ihres Todes ein christliches Begräbnis erhofften, oder Eltern, die ihre Kinder zum Gelderwerb in die Fremde schickten und sie anhand kleiner Zeichen im Gesicht wiedererkennen wollten.
Erst durch die Entdeckung der Südsee im 18. Jahrhundert erreichten Berichte und lebende Objekte der Tätowierkunst Europa und lösten, so Oettermann, eine "Renaissance" des Hautstichs aus. Eine neue Vielfalt der Motive entwickelte sich und auf dem Jahrmarkt stellten sich Tätowierte zur Schau. Doch zum Massenphänomen entwickelte sich die Tätowierung erst in den 1980er Jahren, spätestens seit den 1990er Jahren. Bis heute entstand eine vielfältige Szene von Körpermodifikationen, unter denen sich auch ex-treme Formen wie etwa die Zungenspaltung finden.
Für die Generation zwischen 18 und 30 Jahren sei es völlig normal, eine Tätowierung zu tragen, erklärt Daniel Krause, auch "Tattoo-Krause" genannt. Der Glatzkopf , in jedem Ohr ein Tunnel-Piercing, eröffnet in Berlin gerade seinen sechsten Tattoo-Shop. Das Geschäft mit dem Körperschmuck läuft. Krause nennt zwei Gründe dafür: "Zum einen verlangt unsere Gesellschaft von uns Individualität. Das Streben, sich von der Masse abzuheben, ist eng mit Körperkult und Konsumhaltung verbunden. Zum anderen kann ich durch ein Tattoo meine Emotionen darstellen und sie durch den Prozess des Tätowierens verarbeiten."
Krause erzählt die Geschichte von einem Mädchen, das am nächsten Tag nach Lanzarote fliegen und noch schnell ein Rosen-Tattoo auf der Leiste haben wollte. Und von einer Frau, die im Gedenken an ihr verstorbenes Kind dessen Namen auf der Haut tragen wollte. Das Spektrum ist groß.
Die Verfügbarkeit des Körpers
Aglaja Stirn, Professorin für Psychosomatik und Sexualmedizin an der Universität Kiel, hat bei ihrer Arbeit ähnliche Beobachtungen gemacht. Das christliche Bild von der Unantastbarkeit des Körpers sei verschwunden, das gelte für den Körperschmuck wie für die plastische Chirurgie. "Der Körper ist zur Ware geworden. Er ist Kapital, wir gestalten und benutzen ihn." Diese Verfügbarkeit des Körpers will sie auch positiv interpretiert wissen. Denn damit habe der Mensch ein großes Stück Autonomie gewonnen.
Körperschmuck, davon ist Stirn überzeugt, hat mit Kommunikation zu tun. Immer wieder stößt sie auf Körperveränderungen, die seelische oder geistige Inhalte transportieren. "Das Tätowieren oder Piercen macht etwas mit dem Körper und mit der Psyche." Sie betrachtet den Akt der Tätowierung als ein Ritual, das auch mit Schmerz verbunden ist. In Stammesgesellschaften sei das ausgeprägter, da beginne mit dem Ritual ein neuer Lebensabschnitt. Doch unbewusst, erklärt die Psychosomatikerin, sei das in unserer Kultur auch vorhanden.
Dazu passt, dass die meisten Tattoos erstmalig im Alter von 16 bis 24 Jahren gestochen werden. In unserer entritualisierten Welt könnte man das als eine individuell praktizierte Initiation in die Erwachsenenwelt interpretieren - zumindest innerhalb einer bestimmten "coolen" Szene der Erwachsenenwelt.
Ein Zeichen moderner Individualität
Das Tattoo der modernen Welt "lebt" von der individuellen Bedeutungszuschreibung. Der Sinngehalt der Maori-Tätowierung hingegen erschließt sich allen Maori. Hinzu kommt, dass etwa ein initiierter Angehöriger der Kaningara seine erworbene Identität sein Leben lang trägt. Seine Ziernarben sind verbindlich.
Das ist in der westlichen Kultur anders: Die Dermatologin Elke Tashiro bezeichnet sich als "Pionierin der Tätowierungsentfernung", weil sie im Krankenhaus Neukölln den Beginn der "Laser-Ära" erlebt hat. Entfernte man früher ein Tattoo, blieb zwangsläufig eine Narbe zurück. Das veränderte sich mit der Lasertechnik. "Sie hat dazu geführt, dass sich viele Menschen ein Tattoo machen lassen, weil sie wissen, dass man es wieder rückgängig machen kann." Inzwischen werde oft schon vor der Tätowierung gefragt, welche Farben sich hinterher problemlos weglasern lassen.
Der stark tätowierte Tattoo-Krause plädiert für Mäßigkeit. "Jeder sollte wissen, dass eine Tätowierung Schwierigkeiten bedeutet, ob im Studium, am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche." Er rät seinen Kunden, wenigstens Kopf und Hände frei zu lassen. Außerdem fordert er, dass Tätowierer künftig eine Ausbildung erhalten, damit sie ihre Klienten angemessen beraten können. "Viele Menschen, die zu uns kommen, übertreiben es. Besonders im Rebellenalter wollen sie ganz schnell riesige Tattoos."
Er schüttelt den Kopf. "Bei mir hat es oft lange gedauert, bis ich mir eine Tätowierung habe machen lassen, weil die Idee erst reifen musste." Denn eines ist für ihn klar: "Eine Tätowierung ist ein Bekenntnis."
Antje Stiebitz lebt als freie Journalistin in Berlin und schreibt Interviews, Porträts, Reportagen und Buchbesprechungen.