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Die Heiligsprechung Stalins oder: In Russland ist es gut, Diktator zu sein

Von Edwin Baumgartner

Analysen

Kurze Zeit hatte Zar Nikolaus II. geführt. Jetzt ist die innerrussische Welt wieder in Ordnung und Stalin führt die Liste russischer Superhelden an, die im Auftrag einer staatlichen Fernsehgesellschaft ermittelt wird. Weit mehr als drei Millionen Russen haben bisher laut Internetseite www.nameofrussia.ru abgestimmt. | In Mittel- und Westeuropa mag man über den Aufmarsch der Diktatoren in der Liste überrascht bis geschockt sein. Aber um die tatsächliche Befindlichkeit der russischen Seele zu verstehen, muss man sie quasi von innen heraus begreifen.


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So gilt Stalin in Russland vor allem als der Sieger im "Großen Vaterländischen Krieg", der immer noch so genannt wird. Die Bezeichnung "Zweiter Weltkrieg" konnte sich nie durchsetzen. Hinter Stalin, dem Retter des Vaterlands, tritt Stalin, der Massenmörder, im Bewusstsein zurück. Die russische Kommunistische Partei verlangt sogar von der Orthodoxen Kirche allen Ernstes die Heiligsprechung Stalins.

Auch die Wahl anderer Diktatoren zu Helden wird verständlich, wenn man zwei grundlegende Werte akzeptiert, die auch für junge Russen Gültigkeit haben: Vaterlandsliebe und eine an Heiligenverehrung grenzende Liebe zu Menschen, die Großes für das Vaterland geleistet haben.

So gilt Lenin, der Gründer der Sowjetunion, als der Schöpfer des modernen Russlands. Die Frage, ob es andere Möglichkeiten gegeben hätte, dasselbe Ziel mit weniger Opfern zu erreichen, widerspricht der russischen Mentalität. Wenn das Vaterland Opfer verlangt, werden sie eben gebracht. Die Leidensfähigkeit ist seit Zarenzeiten antrainiert.

Apropos: Iwan der Schreckliche, ebenfalls weit oben auf der Liste, ist jener Zar, der als erster Russland durch eine große Staatsreform als Nation stärkte. Sein Beiname im Deutschen ist eine ungenaue Übersetzung, der Russe versteht unter "Groznyj" eher Strenge als Grausamkeit.

Andererseits liegt der Protestsänger Wladimir Wysozki gut im Rennen. Ausgleichende Gerechtigkeit im Namen der Demokratie? Sie ist jedoch nur ein Nebenprodukt. Ein russischer Volksheld wird, wer auf der Seele des russischen Volkes spielen kann wie auf einer Gusli, dem Zupfinstrument der altrussischen Volksmusik.

Der trinkfreudige Boris Jelzin konnte das. Der Dichter Alexander Puschkin offenbar auch. Dass andere Dichter weit abgeschlagen oder gar nicht vorkommen, offenbart, dass die Lesefreudigkeit der Russen rapide schwindet.

Nur Nikolaus II. unter den Ersten der Liste scheint seltsam: Der zaudernde Zar, der in unbewaffnete Demonstranten schießen ließ, als russischer Volksheld? Doch hier hilft der Märtyrereffekt. Wenigstens in diesem einen Punkt ähnelt die russische Seele der westlichen.