Zum Hauptinhalt springen

Die Heilkunst der Tibeter

Von Alexandra Grass

Wissen
Das Medizin Thangka Nr. 2 zeigt die Grundlagen der Physiologie und Pathologie.
© wikimedia

Mit Vielstoffgemischen ausgesuchter Kräuter könnten die heutigen Zivilisationskrankheiten bekämpft werden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Parallel zur westlichen, wissenschaftlichen Medizin bewähren sich seit Jahrtausenden auch Heilsysteme, die sich den Begriff Traditionelle Medizin zu eigen machen. Einige von ihnen, speziell etwa die chinesische Medizin (TCM), Ayurveda, aber auch die Tibetische Medizin haben sich in der westlichen Welt mittlerweile zu wichtigen Bestandteilen der Komplementär- und Alternativmedizin entwickelt.

Seit einigen Jahren versucht die moderne Wissenschaft auch, in der Traditionellen Medizin angewendete Kräutermischungen zu entschlüsseln und deren Wirksamkeit zu überprüfen. Die Tibetische Medizin ist mit ihren Forschungsarbeiten, die zu einem großen Teil aus der Schweiz generiert werden, auch hierzulande sehr erfolgreich unterwegs. So wurde im Jahr 2011 das erste traditionell pflanzliche Arzneimittel aus dem asiatischen Raum - nämlich ein tibetisches - vom Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen in Österreich als solches registriert. Bis dahin war das Produkt der Schweizer Padma AG (Circosan) lediglich als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich.

Vielstoffgemische

Traditionelle Arzneistoffe sind sogenannte Vielstoffgemische und werden von der Schulmedizin, die mit ihren vorwiegend Einzelsubstanzen arbeitet, oftmals verpönt. Denn in Pflanzen finden sich eine ganze Reihe verschiedener Stoffe, deren Wechselwirkungen eben noch nicht ausreichend erforscht sind, so die Kritik. Denn neben den altbekannten Vitaminen und Spurenelementen liefern Obst, Kräuter und Gemüse noch viel mehr wichtige Substanzen.

Diese sogenannten sekundären Pflanzenstoffe, von denen es bis zu 10.000 verschiedene gibt, fördern schon seit Jahrtausenden erfolgreich die Verdauung, regulieren Blutzucker- und Cholesterinspiegel, wirken bakterien-, viren- und pilztötend sowie antioxidativ. Die Traditionelle Medizin, wie sie über den gesamten Erdball hinweg in verschiedenen Richtungen - in Europa etwa die Traditionell Europäische Medizin (TEM) - existiert, macht sich diese Wirkungen zunutze.

"Aktuellen Forschungsergebnissen über Vielstoffgemische kommt schon deshalb große Bedeutung zu, weil zunehmend immer mehr Menschen an multifaktoriellen chronischen Krankheiten leiden", meint Florian Überall von der Abteilung für Medizinische Biochemie des Biozentrums der Medizinischen Universität Innsbruck und Leiter des Informationszentrums für Tibetische Medizin in Telfs. "Die Antwort auf multifaktorielle Krankheiten wie zum Beispiel Arteriosklerose (Gefäßverkalkung) sind Therapien mit mehreren Komponenten", betont auch Herbert Schwabl, Geschäftsführer und Forschungsleiter der Padma AG.

Ebenso sieht Reinhard Saller, Inhaber des Lehrstuhls für Naturheilkunde an der Universität Zürich und ehemaliger Direktor des Instituts für Naturheilkunde am Universitätsspital Zürich, die Tibetische Medizin als "Chance bei Zivilisationskrankheiten". Die Nebenkomponenten der Wirkstoffgemische "modulieren die Hauptkomponenten und fangen deren unerwünschte Wirkung auf". Hingegen hätten hohe selektive Stoffe, wie sie in der Schulmedizin angewendet werden, hohe Nebenwirkungen, so der Mediziner.

Aloe und Vogelknöterich

Die in Pflanzen enthaltenen Gerb- und Bitterstoffe oder Tannine, wie sie etwa auch im Schwarztee vorkommen, wirken entzündungshemmend, reizmildernd und antioxidativ. Pflanzenfarbstoffe aus Blüten, Blättern und Stängeln - die Flavonoide - stärken das Immunsystem. Duftstoffe (ätherische Öle) können antimikrobiell, krampflösend und entzündungshemmend wirken. Typische tibetische Heilpflanzen sind etwa Aloe, Isländisches Moos, Spitzwegerich, Akelei oder der Vogelknöterich.

Neben der Traditionell Chinesischen Medizin und Ayurveda ist die Tibetische Medizin eine der ältesten Heilkünste. Ihre Anfänge reichen schriftlichen Aufzeichnungen zufolge auf das 7. bis 8. Jahrhundert zurück. Damals wurden erstmals Texte des indischen Ayurveda ins Tibetische übersetzt. Der Einfluss der indischen Medizin ist demnach der größte, aber ebenso fließen die TCM, die altgriechische Tradition, die islamische Unani-Medizin und die lokale Bön-Tradition in die Tibetische Heilkunde ein.

Im 11. Jahrhundert verfasste der tibetische Arzt Yuthog Yonten Gonpo der Jüngere mit seinen "Vier Büchern der Heilkunde" - Gyüshi genannt - die Basis. Dabei greift er auf umfangreiche Medizinschriften des 7. und 8. Jahrhunderts zurück. Gyüshi umfasst rund 1600 verschiedene Krankheiten und mehr als 2000 Heilmittelzutaten.

Sanggye Gyatsho, Regent des V. Dalai Lama, überarbeitete im 17. Jahrhundert das Werk seines Vorgängers und fügte den berühmten Kommentar mit dem Titel "Blauer Beryll" hinzu. Gleichzeitig veranlasste er die Herstellung von insgesamt 77 Gemälden - die Medizin Thangkas -, die den Inhalt dieses Kommentars illustrieren.

77 Medizin-Thangkas

Die Darstellungen zeigen ein umfangreiches Spektrum der damaligen Medizin: Anatomie, embryonale Entwicklung, Geburt und Tod, Diagnose, Krankheitssymptome und Prophylaxe sowie Darstellungen der in der Pharmakologie verwendeten tierischen, pflanzlichen und mineralogischen Elemente. Ebenso werden Ärzte bei der Untersuchung und Behandlung gezeigt sowie medizinische Instrumente abgebildet. Abgerundet wird dies von einem präzisen Verhaltenskodex für Ärzte.

Der Gyüshi, der Blaue Beryll und die Thangkas bilden bis heute die Grundlage für die Ausbildung der tibetischen Ärzte.

Im 18. Jahrhundert gab der VII. Dalai Lama der Ausbildung am Chakpori Institut feste Regeln. Die am Beginn des 20. Jahrhunderts in Lhasa gegründete Akademie Mentsikhang ist auch für Laien zugänglich gemacht.

rlung, tripa, badkan

Dem tibetischen Verständnis zufolge entscheiden die drei Seinsprinzipien - Wind (rlung), Galle (tripa) und Schleim (badkan) - über die körperliche und geistige Gesundheit eines Menschen. Rlung steht für das bewegliche Element im Körper und im Geist. Windenergie ist die treibende Kraft hinter den vegetativen Funktionen wie Atmung, Herztätigkeit und Peristaltik (die Muskeltätigkeit von Organen wie Speiseröhre oder Darm).

Tripa ist das wärmende, energetische und dynamische Wesen aller Lebensvorgänge, vor allem der Verdauung, die mit dem Kochen der Nahrung verglichen wird.

Badkan steht für die Regulation der Körperflüssigkeiten und manifestiert sich in den körperlichen Strukturen.

Diese drei Seinsprinzipien sind eng miteinander verbunden und sichern - im Gleichgewicht - die Funktion der sieben Grundgewebe des menschlichen Organismus: Lymphe, Blut, Zeugungsflüssigkeit, Muskeln, Fettgewebe, Knochen und Knochenmark.

1600 Störungen

Sind rlung, tripa und badkan nicht ausbalanciert, kann es zu einer der in der tibetischen Medizin formulierten rund 1600 Störungen kommen. In erster Linie empfehlen Ärzte dann als Therapie eine spezielle Diät, Veränderungen des Lebensstils und in Folge eben die beschriebenen Kräutermischungen. Zur Anwendung kommen aber auch therapeutische Maßnahmen wie Akupunktur, Moxibustion (die Erwärmung spezieller Körperpunkte) oder Massagen.

Der Ausgangspunkt für chronische Erkrankungen sind Fehlreaktionen des Immunsystems - ausgelöst durch falsches Denken und Handeln, falsche Diät, ungünstiges Klima und andere Umstände. "Die Tibetische Medizin weiß seit Jahrtausenden, dass Einzelsubstanzen der Vielschichtigkeit chronischer Leiden nicht gerecht werden", betont Schwabl. Dieses Wissen können wir uns im Westen unter der Anleitung fachspezifischer Mediziner nach und nach nutzbar machen.