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Die Zivilgesellschaft übernimmt am Hauptbahnhof die Betreuung von Flüchtlingen. Jeder kann mitmachen.
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Wien. Am Wiener Hauptbahnhof ist der schnelle Aufstieg auf der Karriereleiter kein Problem. Eben noch ein paar Schachteln voller Kleider geschleppt, schon ist man Koordinator für den Nachschub nach Nickelsdorf. Wer medizinische Kenntnisse hat, wird im improvisierten Lazarett gebraucht, Kindergartenpädagogen in der Spielecke und Menschen mit Großküchenerfahrung rühren in riesigen Töpfen Suppe oder Reis an.
Während am Westbahnhof Caritas und Rotes Kreuz Hilfe leisten, hat am Hauptbahnhof die Zivilgesellschaft das Kommando. Es gibt keine straffen Hierarchien, keine klaren Befehlsstrukturen, keine robuste Organisation. Wenn Arbeit anfällt, wird sie gemacht, wenn Geld oder Sachspenden gebraucht werden, wird via Twitter (@hbf_vie) aufgerufen, bestimmte Medikamente, Decken, Koffer, Kleidung oder Schuhe vorbeizubringen. Das liest sich dann so: "Für morgen bitte: Bananen, Bananen, Bananen!" oder "Brauchen noch Suppenteller!". Wenn Helfer gebraucht werden, liest sich das so: "Wir brauchen noch 3 Autos/Ca. 6 Menschen, die nach Nickelsdorf fahren können. Idealerweise baldmöglichst."
Logistikexperten könnten meinen, dass die vorwiegend jungen Freiwilligen, die am Hauptbahnhof in der Flüchtlingsbetreuung arbeiten, ihr Logistikmodell aus der "Just-in-Time"-Produktion entlehnt haben. "Just-in-Time"-Produktion nennt man auch die "bedarfssynchrone Produktion", ein dezentrales Organisations- und Steuerungskonzept, bei dem immer nur genau jene Menge an Material zu genau jenem Zeitpunkt geliefert wird, wie gerade zur Erfüllung der Kundenaufträge benötigt.
Der 1992 geborene Wiener Julian Pöschl ist jene Person, bei dem die Fäden der Helfer vom Hauptbahnhof zusammenlaufen. Pöschl ist Filmemacher, Grafiker, Fotograf und ein typischer Vertreter der jungen kreativen Klasse: Digital Native, politisch aktiv, professionell, effizient, aber auch von herzerfrischender jugendlicher Naivität. Denn bis zur Gründung eines Vereins (die bunte Truppe hat gerade die Vereinsanmeldung bei den Behörden eingereicht) haftet Pöschl persönlich, und wer möchte schon eine derartige Verantwortung übernehmen? "Das ist doch alles egal, angesichts der hunderten, tausenden Flüchtlinge, die wir Reisende nennen und die unsere Hilfe brauchen", sagt Pöschl.
Organisationsberater Johannes Schweighofer hat die "Wiener Zeitung" zum Hauptbahnhof begleitet, um mehr über die Struktur dieser Internet-gestützten, zivilgesellschaftlich organisierten Gruppe zu erfahren. Die Truppe der Helfer vom Hauptbahnhof setzt sich jeden Tag aufs Neue zusammen, mitmachen tun die, die eben gerade Zeit haben. Die Balance zwischen notwendiger Struktur und unvermeidlichem Chaos findet Schweighofer recht gelungen. Ohne das Kernteam von rund 20 Leuten wäre allerdings keine Kontinuität gegeben, und die Helfer müssten jeden Tag von Neuem anfangen, sagt Pöschl.
Interessanterweise kommen viele aus dem Kernteam - genauso wie Pöschl - aus der Filmbranche. Warum das so ist, fragt Schweighofer, und Pöschl antwortet: Filmleute seien gewöhnt, längere Zeit an zum Teil entlegenen Orten zu drehen und sich dort ihre eigene Infrastruktur zu schaffen. Darüber hinaus seien sie belastbar und könnten gut improvisieren. "Wir haben gelernt, mit den vorhandenen Mitteln auszukommen", meint Pöschl.
Bahnhof ist "äußerst belastbar"

Freilich, ohne Zusammenarbeit mit den österreichischen Bundesbahnen würde nichts gehen: "Die Kooperation mit den ÖBB ist nicht in Worte zu fassen. Man hat uns die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, wir arbeiten bei der Bahnsteigbetreuung der Reisenden Hand in Hand." Pöschl meint, dass sich in der derzeitigen Situation auch zeige, dass der neue Bahnhof "äußerst belastbar" sei, die Bahnhofsarchitektur erlaube, dass im hinteren Teil des Bahnhofskomplexes Behelfsstrukturen eingezogen werden.
Es herrscht eine seltsame Atmosphäre am Hauptbahnhof. Flüchtlingskinder erfreuen sich an Seifenblasen, ein kleines Wiener Mädchen verschenkt sein Einhorn-Stoffpferdchen an eine Gleichaltrige, die aus Syrien angekommen ist. Wenn die Helfer vom Hauptbahnhof übermüdet und erschöpft sind, erinnern sie Szenen wie diese daran, warum sie hier sind.
Twitteraccount trainofhope HBF Wien @hbf_vie