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Zu den Gebieten, auf denen Ergebnisse mit signifikanten philosophischen Implikationen erarbeitet werden, gehören heute vor allem die Evolutionsbiologie, die Quantenmechanik, die Neurophysiologie sowie die kognitiven Wissenschaften.
Besonders interessant ist die Diskussion dort, wo Fortschritte in den verfügbaren experimentellen Methoden erstmals eine empirische Prüfung von Behauptungen möglich machen, die man noch vor kurzem für hoffnungslos "philosophisch" im abträglichen Sinn gehalten hätte. Auf die Karriere eines jungen Neurophysiologen hätte es vor 30 Jahren einen devastierenden Effekt gehabt, wenn bekannt geworden wäre, dass er herausfinden wolle, wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert, weil neue experimentelle Techniken das Gebiet des empirisch Prüfbaren außerordentlich erweitert haben. Der englische Medizin-Nobelpreisträger Francis Crick und sein junger deutscher Kollege Christof Koch erklärten als Erste, dass die Zeit reif dazu sei, das Rätsel des Bewusstseins in den Griff zu bekommen.
Mängel der Philosophie
Francis Crick war ein äußert inspirierender kritischer Geist mit wenig Geduld für Ideen, die er nicht plausibel fand. Er hat in seiner Arbeit auch immer wieder das Gespräch mit Philosophen gesucht, auch wenn er ihre Beiträge anfangs wenig hilfreich fand, so dass er zu einem abschätzigen Urteil kam: "Die Ansicht, nur Philosophen könnten dieses Problem behandeln, ist völlig haltlos. Die Bilanz der Philosophen in den letzten 2000 Jahren ist derart armselig, dass ihnen eine gewisse Bescheidenheit besser anstünde, als die hochtrabende Überlegenheit, die sie gewöhnlich an den Tag legen."
Auch wenn es Crick selbst versagt blieb, bei der Erforschung des Bewusstseins neue weitreichende Resultate zu erreichen, so war er doch für das ganze Gebiet so inspirierend, dass es heute etwa ein Dutzend Forschungsgruppen gibt, in denen Bewusstseinsforschung auf Weltniveau betrieben wird. In fast allen universitären Philosophie-Instituten findet man heute jüngere Philosophen oder Philosophinnen, die sich auf die Philosophie des Geistes spezialisiert haben.
Zurzeit herrscht zwischen diesen Philosophen und den Neurophysiologen oft wieder ein etwas gereizter Ton: Die Philosophen sind (oft zu Recht) der Meinung, jene Neurophysiologen, die sich über philosophische Fragen äußern, seien meist naive philosophische Dilettanten, während man umgekehrt den Philosophen vorwerfen kann, dass sie nur ungenügend über die neuen naturwissenschaftlichen Ergebnisse informiert sind.
Jetzt aber gibt es auf beiden Seiten Nachholbedarf, weil einige der in der Bewusstseinsforschung führenden Wissenschafter neue Bücher publiziert haben, in denen beschrieben wird, was sie seit dem großen Aufbruch erarbeitet haben und wie sich dadurch ihre Sicht auf die Probleme verändert hat. Das gilt vor allem für Patricia Churchland, Antonio Damasio, Nicholas Humphrey und V.S. Ramachandran.
Ein Beitrag aus Wien
Dazu kommt das ganz anders geartete Buch von Martin Nowak, dem heute in Harvard lehrenden, führenden mathematischen Biologen. Nowak erzählt, unterstützt von Roger Highfield, dem Herausgeber des "New Scientist", seine wissenschaftliche Biografie. Dieses Buch, das dank der Hilfe eines Wissenschaftspublizisten der Weltklasse spannend geschrieben ist, muss schon aus lokalpatriotischen Gründen hier angeführt werden. Es beschreibt nicht nur ein ethisch relevantes Ergebnis der Forschung, nämlich die Evolution des Altruismus, sondern auch die inspirierende Wirkung zweier großer akademischer Lehrer, nämlich des Theoretischen Chemikers Peter Schuster und des Mathematikers Karl Sigmund, welche die Universität Wien zu einem bewunderten Weltzentrum der Biomathematik gemacht haben - ein großer und extrem fruchtbarer Beitrag der Wiener Universität zur Evolutionsforschung.
Konservative europäische Philosophen kümmern sich selten um neue Ergebnisse der kognitiven Wissenschaften. Und so entgeht es ihnen, wenn eine ihrer Lieblingsideen in Reichweite einer empirischen Prüfung kommt oder die Prüfung sogar übersteht.
Dazu nur ein Beispiel: Ein französisch-amerikanisches Team um Stanislav Dehaene, den führenden Experten für die kognitiven Grundlagen der Mathematik und Geometrie, hat eine zentrale Idee Kants bei einem im Amazonas lebenden Stamm primitiver Jäger und Sammler getestet. Sie schreiben dazu: "Obwohl Kants Argument für die Existenz einer apriorischen Intuition ein philosophisches Argument ist, folgt aus ihm doch, dass der Geist aller Menschen mit spontanen euklidischen Intuitionen ausgestattet sein sollte, was die kognitiven Wissenschaften empirisch prüfen können".
Das Team hat nun in raffinierten Tests geprüft, ob die Versuchspersonen bei der Erfüllung praktischer Aufgaben so handeln, als ob sie intuitiv über Begriffe verfügen, die über die unmittelbare visuelle Erfahrung hinausführen - also Tests auf die Verfügbarkeit intuitiver Urteile darüber, ob etwas "wegen grundlegender euklidischer Intuitionen unmöglich so sein kann", oder doch "notwendigerweise so sein muss". Die Mundurucu schnitten dabei ohne jede Schulbildung nicht schlechter ab als französische oder amerikanische Schulkinder.
Englische Kritiker dieser Testserien haben allerdings eingewandt, dass das, was man da getestet hätte, mit geometrischen Intuitionen weniger zu tun hatte als mit einer allgemeinen Fähigkeit zu logischem Denken.
Die jüngsten, neurophysiologisch höchst informierten Bücher von Patricia Churchland, Antonio Damasio, Nicholas Humphrey und Sam Harris sind im angelsächsischen Sprachraum mittlerweile von den dort führenden Spezialisten für die Philosophie des Geistes, mitunter auch extrem kritisch, besprochen worden. Hier soll vor allem auf Patricia Churchlands Buch eingegangen werden, denn es besteht die Gefahr, dass viele Philosophen darin nur einen weiteren Versuch zur unerbetenen Einmischung auf ihrem ureigensten Gebiet der Ethik sehen.
Ursprung der Werte
Dabei scheint die Ethik durch eine weithin akzeptierte Verbotstafel vor derartigen Übergriffen doch hinreichend geschützt zu sein: nämlich durch die Warnung vor einem "naturalistischen Fehlschluss". Darunter versteht man den philosophisch stümperhaften Versuch, aus einem empirisch wissenschaftlichen Satz, der einen Sachverhalt beschreibt, mit logischen Methoden eine Verhaltensnorm ableiten zu wollen.
David Hume folgend, verstand der englische Ethiker George Moore darunter Vorhaben wie den Versuch, die Frage. "Was ist gut?" dadurch zu beantworten, dass man ethische Sätze auf psychologische Sätze oder einen empirischen Bericht darüber reduziert, was die Leute in verschiedenen Kulturen unter dem Begriff "gut" verstehen. Natürlich spielen empirisch wissenschaftliche Sätze auch bei der Vorbereitung von normativen Entscheidungen eine Rolle. So können die Naturwissenschaften und die Vernunft oft entscheiden, welche Ziele in Reichweite sind oder doch aller Wahrscheinlichkeit nach erreicht werden können, und welche Zielvorstellungen inkompatibel sind.
Doch viele solcher Untersuchungen gehören zur deskriptiven Ethik, weil sie ja nur festhalten, was der Fall ist, und nicht, was der Fall sein sollte. Es geht hier darum, ein bestimmtes, allgemein als wünschenswert angesehenes Ziel zu erreichen.
Unter einem "naturalistischen Fehlschluss" versteht man dagegen den Versuch, von einem empirischen Satz ausgehend zu einer der tiefsten Rechtfertigungen der grundlegendsten ethischen Prinzipien zu kommen.
Patricia Churchland geht es jedoch um eine Antwort auf die ganz andere Frage, woher die Werte kommen. Auch den Lyriker Gottfried Benn haben Fragen nach dem Ursprung der Werte bewegt. Er schrieb:
"Ich habe mich oft gefragt
und keine Antwort gefunden
woher das Sanfte und das Gute kommt.
Weiß es auch jetzt noch nicht
und muss nun gehen."
Bisher hatte man dazu drei Typen von Antworten diskutiert:
1. Die Werte sind übernatürlichen Ursprungs.
2. Sie sind durch Vernunft erreichte kulturelle, gesellschaftliche Konventionen.
3. Ihr Fundament ist ein Produkt der biologischen Evolution.
Die im Kasten auf dieser Seite angeführten Bücher diskutieren die Herkunft des Guten nun unter neuen Aspekten.
Vier Hirnprozesse
Patricia Churchland, eine nicht gläubige amerikanische Philosophin mit ganz außerordentlichen Naturwissenschaftskenntnissen, Mitglied des Salk Instituts, hoch respektierte Diskussionspartnerin der Elite der amerikanischen Neuorophysiologen, wie ehemals auch Francis Crick, der sich von ihr philosophisch beraten ließ, geht wie Antonio Damasio von der Einbettung des Geistes in den Körper aus.
Auf Grund des neuen Wissens über die Evolution des Sozialverhaltens der Säugetiere und der physiologischen, vor allem endokrinologischen Erkenntnisse vermutet Patricia Churchland, dass das biologische Fundament des ethischen Verhaltens von Menschen im Lauf der Evolution durch vier miteinander verschränkte Hirnprozesse gelegt wurde:
1. Durch das sich Kümmern um das Wohlergehen Anderer (beginnend mit der Sorge um die eigenen Nachkommen - und erweitert um entferntere Verwandte und andere Mitglieder kleiner Gruppen).
2. Durch die Evolution der Fähigkeit, psychologische Zustände Anderer zu erkennen (entwickelt durch den evolutionären Vorteil, den es bringt, das Verhalten Anderer vorherzusagen zu können).
3. Einhergehend mit der Entwicklung der Fähigkeit, in einem sozialen Kontext Probleme durch Verhaltensweisen noch auf der vorsprachlichen Ebene lösen zu können (etwa die Aufteilung spärlich vorhandener Güter oder die Beilegung territorialer Streitigkeiten).
4. Durch entscheidende Innovationen der Fähigkeit zu sozialem Lernen, die letztlich dann zu Formen sprachlicher Kommunikation führten und damit die spezifisch menschliche Kultur ermöglicht haben, welche - wie der große Kenner klassischer Musik, Antonio Damasio, einmal anmerkte - die eigentliche krönende Errungenschaft der Evolution ist.
Literatur zum Thema <p class="MsoNormal">Patricia S: Churchland: Braintrust. What Neuroscience Tells us about Morality. Princeton University Press, 2011.
Sam Harris: The moral landscape. How Science can determine Human Values. Simon and Schuster, New York Paperback, October 2010.
Antonio Damasio: Self comes to Mind. Constructing the Conscious Brain. Pantheon Books, New York 2010.
Nicholas Humphrey: Soul Dust The Magic of Consciousness. Quercus, London 2011.
V. S. Ramachandran: The tell-tale brain. Unlocking the mystery of human nature, 2011.
Martin A. Nowak, Roger Highfield: Super Cooperators, Altruism, Evolution and why we need each other to succeed. Free Press , New York 2011.
Veronique Izard, Pierre Pica, Elisabeth Spelke und Stanislas Dehaene: Flexible intuitions of Eucledian geometry in an Amazonian indigene group. Proceedings of the American National Academy of Sciences PNAS Vol: 108 (vom 11. Juni 2011). 9782-9787.
Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung sowie Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.