Zum Hauptinhalt springen

Die heulenden Derwische

Von Michael Biach

Reflexionen

Im südlichen Kosovo wird jedes Jahr ein Jahrhunderte altes Ritual von einer Sufi-Bruderschaft zelebriert. Dabei werden in Trance Wangen und andere Teile des Körpers mit Metallnägeln durchbohrt. Blut fließt dabei nur selten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Jedes Jahr wiederholt sich in einer kleinen verschlafenen Seitengasse im pittoresken und durch sein osmanisches Stadtbild geprägten Ort Prizren im Süden des Kosovo eine Jahrhunderte alte Zeremonie. Heulend rufen Männer den Namen Gottes, tanzen und wippen sich in Ekstase und durchstechen ihre Wangen mit antiken Ritualwerkzeugen.

Religiöse Werkzeuge

Durch dieses Ritual des Durchbohrens, so erklären die kosovarischen Derwische, "zeigen wir, dass unser Glaube aufrichtig ist und Allah uns erkennt und beschützt".
© Foto: Michael Biach

Sheikh Adrihusein Sheh ist der religiöse Führer des Rifai’i Ordens, einer im 12. Jahrhundert nahe Basra im heutigen Irak gegründeten Sufi-Bruderschaft. Die Gemeinschaft feiert Nouruz, das Frühlings- und Neujahrsfest. Der Tag markiert den Geburtstag von Imam Ali, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Nach schiitischem Glauben hat Mohammed Ali als seinen Nachfolger auserwählt und ihn mit der Führung des muslimischen Volkes verantwortet. Für Sufis ist Ali der Ausgangspunkt einer kontinuierlichen Übertragung des spirituellen Erbes von Allahs Propheten Mohammed.

In der Tekke, dem Gebetshaus der Sufis, reinigen Gläubige antike religiöse Werkzeuge, die langen, reichlich verzierten Metallnägeln ähneln, an deren Ende ein hölzerner Knauf steckt. Am Höhepunkt des Festes wird der Sheikh diese segnen und nach und nach in die Wangen der Gläubigen stechen. Blut wird dabei keines fließen - und Narben werden nach kürzester Zeit verschwunden sein. So zumindest die Theorie.

"Für manche Außenstehenden ist unsere Zeremonie nur Humbug", bemerkt Sheikh Adrihusein streng, "aber das Ritual dient der Reinigung des Herzens eines Gläubigen. um die Möglichkeit zu erlangen, Gott zu erkennen."

Seine Kritik bezieht sich nicht nur auf Menschen mit anderem oder keinem Glauben, sondern auch auf Muslime im eigenen Land. Ihre mythische Auslegung des Islam und ihre eigene Interpretation von Spiritualität machen die Sufis oft zu religiösen Außenseitern. "Sufismus ist eine Lebensweise und eine ständig andauernde Reise der Vervollkommnung" erklärt der Sheikh. Er verdeutlicht seine Aussage mit einer Parabel: "Zuerst entstand der Mensch, aber ohne Seele, ähnlich einem Gefäß ohne Inhalt. Diese Form muss gefüllt werden, mit Weisheit und Liebe."

Für den Sufi-Meister ist seine Form der Religionsausübung eine traditionelle Methode der Erleuchtung, welche die haqiqah, die grundlegende Wahrheit, durch die Zeit weitergetragen hat. Der Sheikh ist der spirituelle Führer des Rifai’i Ordens. Den Anspruch auf diesen Titel, der nach der Tradition der Sufis erblich ist, hat er von seinem Vater nach dessen Tod übertragen bekommen. Seit seiner Geburt wurde er darauf vorbereitet und auch er wird den Titel nach seinem Tod an seinen ältesten Sohn weitergeben.

Gegen falsches "Selbst"

Um den Orden führen zu dürfen, bedarf es einer ununterbrochenen Transmissionskette, ausgehend vom Propheten Mohammed selbst. Jeder Orden hat uralte Schriftrollen, auf denen die Genealogie dieser Abstammung niedergeschrieben wurde. "Die Aufgabe des Einzelnen", so erklärt der Sheikh, "ist es, gegen das falsche Selbst anzukämpfen und den Weg der Vervollkommnung zu gehen." Unterstützung erhält der Suchende dabei von seinem Führer, dem Sheikh selbst, der ihm hilft, den rechten Weg einzuschlagen und die göttliche Gegenwart zu erkennen. Die Lebensweise der Sufis, die auch Derwische genannt werden, war schon vor Jahrhunderten mit Kritik an einer allzu materialistischen Gesellschaft verbunden. Derwisch leitet sich vom Wort dari - Tor - ab und bezeichnet jemanden, der von Tür zu Tür geht. Die ersten Anhänger des Sufismus waren durch eine stark asketische Lebensweise und materielle Armut charakterisiert. Oft wurden sie daher auch als faqir - arm vor Allah - bezeichnet.

Sheikh Adrihusein, Oberhaupt des Ordens, nimmt die Durchbohrungszeremonie selbst vor.
© Foto: Michael Biach

"Jede göttliche Eigenschaft liegt im menschlichen Herzen verborgen", bekundet der Sheikh fast selbstverständlich. Der dhikr, das gemeinschaftliche Gebetsritual, ist ein Werkzeug, mit dem sich die Derwische die ständige Anwesenheit Gottes bewusst machen. Eine zwingende Vorgehensweise für den dhikr, was "Gedenken an Gott" bedeutet, gibt es im Sufismus nicht. Jeder Orden hat seine eigene Methode. Zur bekanntesten gehört sicherlich der Trancetanz des Mevlevi-Ordens, deren Anhänger oft als "drehende Derwische" bezeichnet werden. Das Gebetsritual der "heulenden Derwische" des Rifai’i-Ordens ist lauter und ekstatischer. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein können, dienen beide Formen des dhikr dem gleichen Zweck.

99 Namen Allahs

In der Zwischenzeit hat sich das Gebetshaus mit über siebzig Gläubigen gefüllt. Die Derwische sind in schwarze Gewänder mit ärmellosen weißen Westen gehüllt, als Kopfbedeckung dient ein Fez-artiger Hut. Dicht gedrängt sitzen sie nebeneinander auf dem Boden, dann beginnt die Zeremonie. Gemeinsam sprechen die Derwische immer wieder den Namen Gottes aus und beschränken sich dabei keineswegs rein auf Allah, sondern bedienen sich aus den im Koran genannten neunundneunzig Namen Allahs, also weiteren Anrufungen Gottes.

Dies geschieht am Anfang noch langsam und sitzend, später wesentlich schneller und erhoben. Nach einer knappen Stunde schwanken die Derwische, begleitet von rhythmischen Becken- und Trommelgeräuschen, immer wieder mit ihrem Oberkörper auf und ab, ständig den Namen Gottes wiederholend. Dabei fallen die Gläubigen in einen tranceartigen, ekstatischen Zustand. Dem Bewusstsein Gottes im eigenen Herzen nahe, ist es Zeit für den ultimativen Glaubensbeweis. "Nur wer es schafft, den Geist vom Körper zu trennen, dem gelingt es auch das Göttliche zu erkennen", offenbart der Sheikh.

Laut den Namen Allahs aus- und anrufend, beginnen die Derwische durch den Raum zu tanzen.
© Foto: Michael Biach

Die jüngsten Derwische, etwa acht bis zwölf Jahre alt, stellen sich vor ihm in einer Reihe auf. In seiner Hand hält er eine lange Nadel. Für einige der Jungen ist es ihr erstes Nouruz-Ritual. Angst haben sie keine, wirken aufgeregt und stolz. Der Sheikh spricht eine Segnung, führt die Eisennadel langsam durch seinen Mund und befeuchtet diese mit seiner Zunge. Mit der linken Hand greift er die rechte Wange des Jungen und durchsticht sie mit einem kurzen Ruck. Der Junge lächelt und macht Platz für den nächsten. Das repetitive Gottesbekenntnis sowie das Wanken der Oberkörper dauern unterdessen an. Nun kommen auch die erwachsenen Derwische an die Reihe und der Sheikh greift nach großen Eisennägeln, viele davon sind Jahrhunderte alt.

Das Ritual wiederholt sich, der dhikr ist auf seinem Höhepunkt. Etwa ein Dutzend der Derwische hat das metallische Ritualwerkzeug bereits durch die Wangen gestochen bekommen. Mit der linken Hand am verzierten Holzknauf festhaltend wippen die Derwische automatisch auf und ab.

Zwei ältere, wesentlich erfahrener anmutende Derwische, betreten die Mitte der Tekke. Sie werden das spirituelle Ritual an sich selbst vornehmen. Tanzend wandeln sie durch den Raum, von einer Ecke zur anderen, unter ständiger rhythmischer Begleitung durch Trommeln und Gesang der anderen Derwische. Immer wieder halten sie inne und lassen die spitzen Eisenstangen auf ihren Hälsen unterhalb des Kehlkopfes kreisen. Die Metallkettchen am Knauf wirbeln durch die Luft. Als Musik und Gebetsrufe scheinbar immer manischer werden, machen die beiden hastige Bewegungen, nehmen die Stangen in die rechte Hand und stechen sie sich seitlich in den Bauch, oberhalb der Hüften. Die ekstatischen Geräusche nehmen scheinbar ab, doch niemand schreckt auf. Die Derwische sind erfahren und wissen, wie weit sie gehen können.

Jung und Alt sind beim "Nouruz"-Fest versammelt: links junge Novizen, rechts alte Derwische des Rifai’i Ordens . . . Biach
© Fotos: Michael Biach

Der Sheikh tritt nach vorne. In seiner Hand hält er einen schweren Eisenstab, einem Hammer ähnlich. Mehrmals schlägt er damit auf die Stangen in den Bäuchen der Derwische. Einer der beiden lässt sich auf die Knie fallen. Der Ausdruck in seinen Augen lässt die Ekstase erahnen, in der er sich befindet. Ruhig und kontrolliert befreit er sich von dem Spieß, der in seinem Bauch steckt. Mit der rechten Hand hält er den Knauf, die andere legt er an sein Gesicht. Dann durchsticht er beide seiner Wangen in einem Ruck. Der Widerstand ist spürbar und lässt einen Schmerz nachvollziehen, den der Derwisch aufgrund seiner Trance gar nicht erst erfährt. Erschöpft atmet er mehrmals aus, dann steht er zügig auf und schließt sich den anderen an, ruft den Namen Gottes und schwankt im Takt mit seinem Oberkörper.

Keine Selbstgeißelung

"Es handelt sich dabei keinesfalls um eine Art Selbstgeißelung", versichert einer der Derwische. "Wer den Geist von seinem Körper lösen kann, der kann Gott erkennen und den Weg zur Vervollkommnung gehen", beschwört er. Erneut treten die Gläubigen vor den Sheikh. Langsam entfernt er die Nägel aus den Wangen der Derwische. Mit Daumen und Zeigefinger drückt er auf die wunden Öffnungen, das soll helfen, dass nach dem Entfernen der Instrumente kein Blut fließt und Verletzungen rasch verheilen.

"Durch dieses Ritual zeigen wir, dass unser Glaube aufrichtig ist und Allah uns erkennt und beschützt, wenn wir ihn erkennen", erklärt der Sheikh erneut. Tatsächlich scheinen die Wunden nicht zu bluten und Narben sucht man in den Gesichtern der Älteren vergeblich. Auch scheint keiner der Gläubigen von Schmerzen geplagt. Dann drängt sich einer der Derwische durch die Menge, zückt ein Taschentuch und reicht es einem Buben. Etwas Blut ist am Ende doch geflossen.

Michael Biach, geboren 1979, hat Betriebswirtschaft studiert, lebt in Wien und arbeitet seit 2005 im Medienbereich. Er ist seit knapp zwei Jahren als Reportagefotograf tätig und befasst sich in seiner Arbeit mit kulturellen und sozialen Aspekten der Gesellschaft. www.michaelbiach.com