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Die historische Macht der Viren

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Parallelen zwischen der aktuellen Krise und jener des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert.


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Die moderne Archäologie und die DNA-Erkenntnisse haben es ermöglicht zu erkennen: Sogar das mächtige Römische Reich wurde durch Pandemien enorm geschwächt und im Ensemble mit anderen Faktoren in den Untergang gezogen. Die Kraft und Macht von Viren bleibt ungebrochen. Die Politik ist auch heute noch ein Zuschauer am Bildschirm. Die Menschheitsgeschichte spielt vor leeren Rängen.

Technische Fortschritte haben seit der Aufklärung, seit dem Ende der Dominanz des religiösen Glaubens in Europa, zu einer Entkoppelung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und moralischen Bindungen geführt. Dazu kam als dritter Player der (ökonomische) Markt, der die Entkoppelung nutzte und je nach Vorteilschancen eine Koalition mit der einen oder der anderen Kraft einging. In einem "Spiegel"-Interview hat der deutsche Philosoph Markus Gabriel die neue Situation konzis beschrieben: "Heute haben wir auf der ökonomischen Ebene das, was ich einen Burn-out-Kapitalismus nenne."

"Burn-out-Kapitalismus" ist eine gute Beschreibung für den Zustand der USA, Großbritanniens, Schwedens und einiger weniger anderer Länder im die EU übergreifenden angelsächsischen, neoliberalen Gürtel. Die Haltung dieser Länder in der Corona-Problematik hat die gesellschaftspolitischen Positionen klar gemacht: Wirtschaft vor Leben. Konfrontativ dazu die Haltung der mittel- und südeuropäischen Staaten: Leben vor Wirtschaft.

Dazu noch einmal Gabriel: "Jeder von uns hat während der Pandemie merkwürdige Erfahrungen gemacht. Ich wollte für meine Kinder ein fiebersenkendes Mittel in der Apotheke kaufen, aber dort hieß es, durch Corona sei es nicht mehr zu bekommen, es werde aus Indien zurzeit nicht geliefert. Ich weiß um die globalen Lieferketten. Aber dass wir derart abhängig geworden sind von Märkten, in denen es sozial und moralisch ungerecht zugeht, wurde mir in dieser Situation erst sichtbar wie unter einem Brennglas."

Die Industriestaaten des 21. Jahrhunderts werden mit diesen Problemen relativ leicht fertig, weil sie über Impfstoffe verfügen (etwa gegen Grippe) und diese effizient verteilen können. In der Antike war das nicht der Fall. Erst seit wenigen Jahren können auch die Historiker mit einem Blick auf Ursachen und Wirkungen aufwarten.

Der heutige Blick aufden Untergang Roms

In seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch "Fatum - Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches" (Verlag C.H. Beck) hat der US-Historiker Kyle Harper die jüngsten Untersuchungen an Ausgrabungsstücken in neue Interpretationen der römischen Spätgeschichte eingearbeitet, die man auch auf die Auswirkungen der Corona-Krise auf Schwächezeichen heutiger Großreiche anwenden kann. Vor allem auf die USA, wo die weiße Dominanz (vergleichbar jener Roms in der Antike) schwindet, die Stärke der US-Truppen im Ausland (siehe Reduktion in Deutschland) vermindert wird und die aus Mitteln des Militärbudgets mitfinanzierten Forschungsgelder falsch eingesetzt werden (siehe Corona, siehe Kürzung der Umweltprojekte unter Präsident Donald Trump).

In seinem Buch illustriert Harper den römischen Niedergang mithilfe zahlreicher Faktoren. Hier einige davon:

Erster Faktor: Bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts war der Mittelmeerraum dominiert von einem warm-feuchten Klima, das zu großen Ernten führte. Ein Beispiel: Wer sich nicht näher mit dem Raum Neapel beschäftigt, wird nicht begreifen, warum Kaiser Nero eine Art Autobahn bis Rom errichten wollte, um das Getreide schneller und geschützter (vor Ratten und Dieben) zu transportieren. Er (oder sie) wird der oberflächlichen Überlieferung anhängen, na, das war halt ein Verrückter. Nein, vielleicht war Nero sogar ein Realist, der die Zukunft deuten konnte. Können wir das heute in ausreichendem Ausmaß?

Zweiter Faktor: Die ersten Jahrhunderte nach Christus waren geprägt von einer unglaublich raschen Globalisierung. Der europäische Geschichtsunterricht vernachlässigt die hochentwickelte terrestrische und geistige Struktur im Nahen Osten sowie die rechtlichen Strukturen des Riesenreiches. Unabhängig von nationalen Zugehörigkeiten konnten Einwohner des nordafrikanischen Karthago oder Syrer aus Palmyra römische Bürger werden. Immer öfter stiegen sie als Heerführer oder als Beamte in höchste Staatsämter auf. Sie waren zwar römisch eingeschult, verfügten vielfach aber trotzdem über andere Mentalitäten und Verwandtschaftsbeziehungen. Das glich sich aus.

Dritter Faktor: Immer öfter legten Epidemien, zwei Mal sogar Pandemien die Verwaltung des Reiches lahm. Alexandria, die nach Rom zweitgrößte Stadt des Reiches, verlor um 260 durch die "cyprische Pest" die Hälfte seiner Einwohner. Zur gleichen Zeit wurde das Heer um zwei Drittel der Soldaten dezimiert: Massive Einfälle anderer Völker über die Grenzen hinweg waren die Folge.

Ein vierter Faktor, der erst viel später analysiert werden konnte: Ab ca. 240 wurde es kühler und trockener. Schon vorher floss weniger Nilwasser, sodass wegen der sinkenden Getreidemengen vor allem der Weizen- und damit der Brotpreis anstieg. Da dies vor allem die Städte belastete, setzte eine enorme Stadtflucht ein.

Die Natur übernahm zeitweise die Macht

Einige Schlaglichter als unzusammenhängende Ergebnisse des damaligen Klimawandels:

Nach und nach kamen Ärzte darauf, dass die Beschaffung von Elefanten, Tigern, Löwen, Kamelen aus dem asiatischen und ostafrikanischen Raum für die gigantischen Belustigungen im Kolosseum in Rom und in anderen Großstädten immer teurer wurde - und den Transport von Viren und neuen Krankheiten beschleunigten.

Im 3. Jahrhundert beliefen sich die Militärausgaben von Rom und Konstantinopel ungefähr auf jene Summen, die Washington heute global ausgibt. Die Hälfte der 50.000 Soldaten soll aus nicht-römischem Personal bestanden haben und hier wiederum vor allem aus Nordafrikanern, Syrern und Angehörigen von Donauvölkern. Die Parallelen zu heute - auch was die Bildungstraditionen betrifft - sind verblüffend.

Die Ausbreitung des Reiches führte beispielsweise zur Einwanderung der "Nacktsohlen-Rennmaus" aus der Gegend zwischen Sahara und Tropen. Diese brachte das Tatera-Pockenvirus mit und gelangte über Handels- und Militärschiffe auch nach Italien und Griechenland.

"Ischgl" gab es schon damals: die Insel Sokodra, 240 Kilometer vor dem Horn von Afrika. Heute unbekannt, damals ein Hotspot, weil dort die Handelsschiffe ruhig landen und wieder wegfahren konnten. Geschäfte, Unterkünfte und Bordelle prägten das Bild, gut dokumentiert für Ausgrabungen.

Das römische Imperium mauserte sich zu einem globalen Muster für eine Welt, in der viele der heutigen Ideologien bereits ihre Probe hielten. Die wirklich neue Erkenntnis ist, dass die Natur in Form von Klimakrisen und Viren-Expansionen zeitweise die Macht übernahm. Sie zu zähmen, ist die momentane Auseinandersetzung.