Bei den Verhandlungen um ein Handelsabkommen mit Großbritannien hat die offiziell letzte Runde begonnen. Während die Briten auf ihrer Position beharren, signalisiert die EU Entgegenkommen.
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Das jüngste Schreckenszenario stammt überraschenderweise von einem überzeugten Brexiteer. In einem vergangene Woche an die Frächter des Landes verschickten Brief warnt der britische Staatsminister Michael Gove vor endlos langen Lkw-Schlangen, falls die Verhandlungen mit der EU über ein neues Handelsabkommen scheitern: Bis zu 7.000 Schwerfahrzeuge könnten in der als "Garten Englands" bekannten Grafschaft Kent im Stau stehen, während sie darauf warten, dass alle Formalitäten und Kontrollen, die dann für eine Einreise ins Unionsgebiet nötig sind, erledigt werden. Die Transportunternehmen müssten sich daher dringend auf die neuen Rahmenbedingungen vorbereiten, um die Grenzwartezeiten nach dem Jahreswechsel nicht noch zusätzlich zu erhöhen.
Verglichen mit den Unterhändlern, die seit Dienstag wieder über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU verhandeln, haben die britischen Frächter allerdings noch einen geradezu komfortablen Zeitpolster. Denn bei den acht Treffen, die es seit dem Frühjahr stattgefunden haben, sind bisher nur wenig bis gar keine Fortschritte erzielt worden. Offiziell ist die aktuelle Verhandlungsrunde auch schon die letzte, weil die Parlamente in Großbritannien und den 27 EU-Staaten auch Zeit benötigen, um ein eventuell doch noch zustande kommendes Abkommen zu ratifizieren. Mitte Oktober sei die absolute Deadline für eine Einigung, hatte der britische Premier Boris Johnson, der derzeit auch wegen der Corona-Krise massiv unter Druck steht, zuletzt mehrfach erklärt.
Das anvisierte Abkommen soll nach dem endgültigen Ausscheiden der Briten aus dem EU-Binnenmarkt am 31. Dezember einen harten Bruch mit Zöllen und Handelshemmnissen wie etwa komplizierten Einreiseformalitäten verhindern. In den Verhandlungen zwischen EU-Chef-Unterhändler Michel Barnier und seinem britischen Kollegen David Frost hakt es jedoch nach wie vor bei den Regeln für die Fischerei sowie den grundsätzlichen Rahmenbedingungen für fairen Wettbewerb und staatliche Unternehmensubventionen.
Binnenmarktgesetz bleibt
Diplomaten zufolge hat sich in der vorangegangenen Gesprächsrunde allerdings die Atmosphäre merklich verbessert. Noch wichtiger dürfte aber sein, dass die EU laut einem Bericht der "Times" zuletzt auch ihr Entgegenkommen signalisiert hat. So sei Barnier nicht nur bereit, diese Woche an einem "konsolidierten Rechtstext", also einem gemeinsamen Entwurf eines Freihandelsabkommens, zu arbeiten. Der Zeitung zufolge hat die EU auch ihre Drohung zurückgezogen, die Handelsgespräche auszusetzen.
Überschattet werden die Verhandlungen über ein Post-Brexit-Abkommen allerdings nach wie vor vom britischen Binnenmarktgesetz, das das Unterhaus am Dienstagabend in dritter und letzter Lesung passieren sollte. Mit 340 zu 256 Stimmen brachte Premier Boris Johnson das Gesetz mit einer klaren Mehrheit durch das Londoner Parlament. Als nächstes muss es noch das Oberhaus passieren.
Mit dem Gesetz stellt London bereits im Austrittsvertrag ausgehandelte Sonderregeln infrage, mit denen die EU angesichts der blutigen Vergangenheit eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern wollte. Die EU bezeichnet die britischen Pläne daher als schweren Vertrauensbruch und forderte die britische Regierung auf, bis Ende September einzulenken - was die Briten bisher jedoch entschieden ablehnen. "Diese Klauseln werden im Gesetz bleiben", sagte Minister Gove nach einem Treffen EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic am Montag. Das sei notwendig als "Sicherheitsnetz" und werde vom Parlament unterstützt.
Unklar bleibt somit nach wie vor, ob Premier Johnson und seine engsten Mitstreiter nicht auch ohne Einigung gut leben können oder ein "No Deal" nicht so gar insgeheim bevorzugen. So hat der Premierminister zuletzt immer wieder erklärt, dass auch ein Scheitern der Handelsgespräche ein "guter Ausgang" für Großbritannien wäre.
"Wir wollen ein Abkommen"
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist allerdings dennoch optimistisch, dass die EU und Großbritannien doch noch ein Abkommen vereinbaren werden. "Wir wollen ein Abkommen und ich bin immer noch überzeugt, dass ein Abkommen möglich ist", sagte von der Leyen bei einem Treffen mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Antonio Costa in Lissabon. Es müsse nun "Verantwortung" übernommen werden. Die Wirtschaft leide unter den Folgen der Corona-Pandemie "und wir müssen alles dafür tun, um ein vernünftiges Abkommen zu erreichen".(rs)