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Die hohe Kunst der Unsichtbarkeit

Von Eva Stanzl

Wissen
Im Elektronenmikroskop ist die optische Tarnkappe unter der Wölbung im Goldfilm (gelbrot) erkennbar. Foto: CFN

Metamaterialien lenken Infrarotlicht um. | Ist ein Tarnmantel für den Menschen in greifbarer Nähe? | Karlsruhe/Wien. Seit er die Tarnkappe gestrickt hat, laufen bei Tolga Ergin die Drähte heiß. "Mit einem solchen Andrang habe ich nicht gerechnet", sagt der Physiker, gar überrascht über das Interesse an seinem Experiment. Sogar bis nach Neuseeland hätte sich die Sache herumgesprochen. Ein Redakteur von einem Radiosender aus Christchurch habe wissen wollen, ab wann er sich eine Tarnkappe zu Weihnachten wünschen könne.


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Unsichtbar zu sein für Freund und vor allem Feind ist ein Traum, der die Mythen der Menschheit durchzieht. Im Nibelungenlied hütet der Zwergenkönig Alberich den Nibelungenhort. Mit einer Tarnkappe - im frühmittelalterlichen deutschen Sprachgebrauch ein Tarnmantel oder -umhang, die "Cappa" - kann er sich in alles verwandeln und unsichtbar machen. Siegfried kann ihm die Tarnkappe entwenden und gelangt so an den Schatz der Nibelungen. In der griechischen Mythologie fertigen die Zyklopen einen Tarnhelm, der unsichtbar macht, für den Unterweltsgott Hades, damit dieser Zeus im Kampf gegen die Titanen beistehen kann. Obzwar der Physiker Tolga Ergin "nur" die Grundlagen der Transformationsoptik um einen Schritt weitergeführt hat, darf die Begeisterung an seinem Experiment nicht wundern.

Denn hätten sie einen Zaubermantel vom selben Zuschnitt wie Harry Potter, könnten Kinder, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, sich vor den Augen des rügenden Lehrers in Luft auflösen. Oder Erwachsene bei peinlichen Situationen in die Wand melieren. Unsichtbare Bankräuber hätten einen Handlungsspielraum, der der Branche Flügel verleihen würde, und betrogene Ehepartner könnten ihren eigenen Privatdetektiv spielen, während der betrügerische Teil der Verbindung sich unbemerkt abseilen könnte, ganz ohne Ausreden erfinden zu müssen. Geheimdienste müssten weniger Abhörgeräte installieren, weil sie brisanten Gesprächen persönlich beiwohnen könnten. Unsichtbare Börsenspekulanten hätten Äonen von neuen Möglichkeiten, um den Märkten zu Leibe zu rücken, Schlepperbanden wären schier von der Bildfläche verschwunden und analog dazu würden weniger illegale Immigranten abgeschoben.

Auch bieten Tarnkappen unerwartete Möglichkeiten des sozialen Zusammenlebens - etwa indem man sie hässlichen Menschen oder Menschen mit schlechter Ideologie überstülpt - sowie für das Rechtssystem: zwei Monate Unsichtbarkeitsstrafvollzug, etwa für B-Promis. Die demokratiepolitische Bedenklichkeit der neuen Technologien würde ganze Ethikkommissionen auf den Plan rufen. Die Konferenzen der Tarnkappenträger würden zwar in jedem Land andere Aktionsradien abstecken, aber das wäre egal, da jeder unbemerkt Grenzen überqueren könnte.

Gähnende Leere, dabei ist der Raum voll: In der Mitte die Autorin bei der Arbeit mit Tarnkappe auf dem Kopf. Foto: Corbis

Die Tarnkappe - in erster Linie ein eigennütziges Instrument? Nicht zwingend. Liebhaber könnten damit ihre Angebeteten belauschen und ihnen danach scheinbar jeden Wunsch "von den Augen" ablesen. Die Polizei hätte, ganz nach dem Vorbild von Hades, ein schlagkräftiges Instrument im Dienste der Sicherheit, wenn sie Verbrechern auflauern will. Für den Ertappten würden die Handschellen quasi aus dem Nichts kommen - wie Zauberei.

Physiker stehen aber allgemein nicht im Ruf, sich um Zauberei zu kümmern. Oder doch? Über die Unsichtbarkeit denken jedenfalls einige ernsthaft nach. Tarnkappen sollten prinzipiell möglich sein, berichtete 2006 Sir John Pendry vom Imperial College in London. Nur fünf Monate nach der Veröffentlichung im renommierten Fachblatt "Science" schafften es Forscher on der US-amerikanischen Duke University in Durham: Sie ließen einen winzigen Kupferblock verschwinden. Das rein optische Experiment funktionierte jedoch auf der Basis von Mikrowellen und war daher mit freiem Auge nicht sichtbar.

Nun wollen Tolga Ergin und Nicolas Stenger vom Karlsruher Institut für Technologie tatsächlich das erste dreidimensionale Modell einer Tarnkappe angefertigt haben. Und sie wollen im Experiment bewiesen haben, dass sie unsichtbar macht: Der mythische Traum rückt in greifbare Nähe.

Wölbung verschwunden

Der Mantel besteht aus einem Metamaterial. Metamaterialien beeinflussen die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen anders als alle in der Natur existierenden Substanzen. Das Gewebe besteht aus winzigen Polymer-Stäbchen, die Licht in Infrarot-Wellenlänge umlenken. Man nehme zudann eine reflektierende Folie und verstecke ein Objekt unter ihr. Das versteckte Objekt macht eine Wölbung in der Oberfläche der Folie. Man lege den Tarnmantel über die Wölbung, bestrahle das Ensemble mit infrarotem Licht und - die Wölbung verschwindet. Die Polymer-Struktur des Tarnmantels lenkt die Infrarot-Strahlen so um, dass eine glatte Spiegelfläche erscheint - Wölbung und Tarnkappe unsichtbar.

Noch während sich die Autorin fragt, ob diese Tarnkappe wohl dazu geeignet wäre, dass man die Delle in ihrer Autotür gar nicht sehen würde, würde man das Licht nur in die Gegenrichtung lenken, belehrt Ergin sie eines besseren: Auch "dieses Experiment ist mit freiem Auge nicht sichtbar". Erstens kann das menschliche Auge Infrarotlicht nicht sehen - einzig das Messgerät für Infrarotstrahlen misst, was es unter Infrarot-Strahlung nicht sieht, sprich "keine Wölbung". Und zweitens ist die Tarnkappe 90 Millionstel Quadratmeter klein und das darunter unsichtbare Objekt noch kleiner - einzig ein Raster-Elektronen-Mikroskop kann den Beweis fotografieren.

Bis zum Tarnmantel für Menschen wird es also noch dauern. "Theoretisch könnte man Tarnkappen in allen Größen machen, aber es gibt technische Beschränkungen. Soll ein Gewebe auch sichtbares Licht umlenken, müssten wir die Polymer-Stäbchen noch winziger machen", sagt Ergin. Ein Grund dafür sind die kürzeren Wellenlängen von rotem, gelbem oder blauem Licht.

Physiker der University of California hatten bereits im Vorjahr ein erfolgreiches Infrarot-Experiment gemacht, jedoch in zweidimensionaler Ausführung. Finanziert wurde es unter anderen von der US-Armee. Einen Nutzen zur Tarnung von Soldaten oder militärischem Gerät gibt es aber noch nicht, denn Metamaterialien sind gerade sechs Jahre alt. Doch wer weiß, was in Zukunft möglich ist? Wer glaubte zu

Jules Vernes Zeiten an einen Flug zum Mond? Und wer sah in den Sechzigern Captain Kirks Klappkommunikator und dachte, dass bald alle Welt so telefonieren würde?