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Die Hongkong-Dystopie

Von Thomas Seifert

Leitartikel

In Hongkong folgt eine Eskalation auf die nächste.


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"Die Situation ist so gefährlich geworden, dass alle Seiten einen Schritt zurückgehen sollten, bevor es noch schlimmer wird", lautet der Appell im jüngsten Leitartikel des traditionsreichen Hongkonger Blattes "South China Morning Post" an die Leserinnen und Leser. Tatsächlich: Seit dem Beginn der Unruhen im Juni in Hongkong folgt einer Eskalation die nächste: In den vergangenen Tagen lieferten Polizei und Aktivisten einander brutale Schlachten auf dem Hochschulcampus der renommierten Polytechnischen Universität. Dabei wurde ein Polizist von einem Pfeil getroffen, die Aktivisten legten an mehreren Orten Brände. Die Sicherheitskräfte belagern das Gelände der Polytechnischen Universität seit Tagen, zuletzt haben sich Studenten in spektakulären Abseilaktionen vom Gelände auf eine Stadtautobahn geflüchtet.

Die Zusammenstöße zwischen Aktivisten und Polizei sind in den vergangenen Monaten immer gewalttätiger geworden, viele junge Aktivistinen haben sich radikalisiert und bewaffnet. Das Arsenal ist wie von der dystopischen "Hunger Games"-Romantrilogie der US-Schriftstellerin Suzanne Collins inspiriert: Steinschleuder, Molotowcocktails, Pfeil und Bogen. Zugleich geht die Polizei immer härter gegen die Demonstranten vor.

Der Peking-loyalen Führung der Sonderverwaltungszone Hongkong, an deren Spitze Carrie Lam steht, gelingt es einfach nicht, der Krise Herr zu werden. Lam war es ja, die mit der Vorlage eines Auslieferungsgesetzes den Zündfunken für die Demonstrationen lieferte. Kritische Studenten sahen in der Gesetzesvorlage einen weiteren Schritt in Richtung einer engeren Anbindung an China, bevor die Sonderverwaltungszone ihre derzeitige Eigenständigkeit im Jahr 2047 verlieren wird. Den Demonstranten ist es gelungen, den Protest gegen das Gesetz zu einem Ringen um die Seele Hongkongs hochzustilisieren.

Noch bis vor wenigen Tagen hat es so ausgesehen, als würden die Proteste nach sechs Monaten nun abflauen, doch der Tod des 22-jährigen Studenten Alex Chow nach einer Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizei am 8. November hat die Proteste wieder angefacht. Dies ist für die prochinesische Stadtregierung nicht zuletzt deshalb unangenehm, weil für den 24. November Bezirkswahlen angesetzt sind und nicht zu erwarten ist, dass die Proteste bis dahin abflauen werden. Den Kandidaten des prodemokratischen, chinakritischen Lagers werden bei diesen Wahlen teils deutliche Zugewinne vorausgesagt.

Eine Deeskalation sollte also durchaus im Sinne des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping sein. Doch derzeit deutet nichts darauf hin, dass Lam aus Peking zu Zugeständnissen an die Demonstranten gedrängt würde.