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Die Ikone des türkischen Widerstands

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die Literaturdozentin Nuriye Gülmen protestiert seit Wochen gegen ihre Suspendierung.


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Ankara. Die Heldin von Ankara ist groß und schlank, sie hat Sommersprossen und ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Sie trägt das brünette Haar kurz und pflegt eine klare Sprache. Die 34-jährige Nuriye Gülmen strahlt die Ruhe derer aus, die sich entschieden haben, Grenzen zu überschreiten und die Folgen in Kauf zu nehmen. Doch ein bisschen nervös ist sie schon an diesem Morgen - wie jeden Tag seit anderthalb Monaten, als sie ihren Protest begann, der ihr 20 Festnahmen einbrachte und sie in der Türkei berühmt machte. Sogar die Opposition im Parlament hat sie schon als Beispiel für Zivilcourage gelobt.

Es ist klirrend kalt, als Nuriye Gülmen in einem Café ihre Mütze aufsetzt, zusammen mit ihrem Mitstreiter Semih Özakca ihre Plakate nimmt und die paar Schritte zum Menschenrechtsdenkmal in der Fußgängerzone im Herzen der türkischen Hauptstadt geht. Das Mahnmal zeigt eine Frau, die in der universellen Erklärung der Menschenrechte liest. "Einen besseren Ort hätte ich nicht wählen können", sagt Gülmen. Mit geübten Griffen befestigen die Aktivisten handgemalte Schilder an der Metallfigur. "Ich wurde entlassen. Ich will meine Arbeit zurück!", steht darauf. Dann rufen sie, so laut sie können: "Wir sind Arbeitnehmer, wir haben Rechte! Die Regierung hat Zehntausende entlassen! Wir rufen alle dazu auf, sich mit uns zu solidarisieren."

Einige Passanten blicken auf, wenige halten an, viele hasten weiter und tun so, als ob es nichts zu sehen gäbe. Zwanzig Meter weiter stehen sechs junge, bärtige Männer in uniformen blauen Anoraks und beobachten die Szene. Einer filmt. "Die Polizei", sagt Gülmen. "Sie nehmen uns nicht mehr fest, aber sie sind immer dabei."

Universitäten büßten15 Prozent ihres Personals ein

Trotzdem ist die Nicht-Verhaftung ein kleiner Sieg für Gülmen. Sie ist eine von rund 20.000 Akademikern, die unter dem Ausnahmezustand nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli ihre Arbeit verloren, weil sie angeblich die Putschisten gegen den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan unterstützten. "Ich habe nichts damit zu tun", sagt Gülmen. "Meine Suspendierung ist ein Witz." Einen Monat, nachdem sie den Bescheid der Seldschuken-Universität im zentralanatolischen Konya erhielt, ging die linke Literaturdozentin nach Ankara, um für ihre Rückkehr in den Hörsaal zu kämpfen.

"Im ersten Monat meines Protestes nahmen sie mich jeden Tag nach zwei Minuten fest, hielten mich einige Stunden fest und ließen mich dann wieder frei", erzählt sie. "Aber ich sagte ihnen, dass ich nicht ruhen werde, bis ich meine Arbeit zurückhabe. Irgendwann wurde es ihnen zu viel, und sie hörten damit auf." Fünf Stunden steht sie seither jeden Tag in der Fußgängerzone und schreit ihre Wut heraus. So ist Nuriye Gülmen in den sozialen Medien der Türkei zur Ikone des Widerstands geworden - gegen ein kafkaeskes Herrschaftssystem, das Widerspruch nicht duldet und kleinste Abweichungen mit größter Härte bestraft.

Hieß es ursprünglich, dass sich die staatlichen "Säuberungen" nur gegen die Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen - den angeblichen Auftraggeber des Militärputsches - richten, so wurde schnell klar, dass sie auch andere Regierungskritiker betrafen, die gar keine Verbindung zu den Gülenisten hatten: Linke, Liberale, Gewerkschafter, Kurden. Ihr eigener Fall zeige, dass fast jeder von den Behörden attackiert werden könne, ohne die Chance, sich juristisch zu wehren, sagt Gülmen.

Mehr als 115.000 Menschen verloren bisher ihre Arbeit: in den Sicherheitskräften, Gerichten, Behörden, Schulen und Universitäten. Gerade Universitäten, traditionell ein Rückzugsraum linker Intellektueller, wurden massiv attackiert und büßten rund 15 Prozent ihres Personals ein. Auch Professoren zählen zu jenen rund 41.000 Menschen, die wegen des Putschversuchs in Untersuchungshaft sitzen. Und täglich kommen Dutzende hinzu.

Mehr als eine Million Menschen in der Türkei leiden inzwischen darunter, dass sie die Ernährer der Familie verloren haben; die Suspendierten werden oft gesellschaftlich geächtet, finden keine andere Arbeit. "Man nennt sie Verräter, sie sind wie Ausgestoßene", sagt Gülmen. Man hört von entlassenen Lehrern, die auf dem Bau oder auf Feldern schuften, und von Verzweifelten, die Selbstmord begehen.

"Bitte unterstützen Sie mich und unterschreiben Sie meine Petition", ruft Nuriye Gülmen den Passanten zu. Hin und wieder trauen sich vor allem Junge, eine Unterschrift für sie zu leisten. "Man muss gegen das Unrecht kämpfen", sagt eine Studentin. Gülmen war das Risiko bewusst, als sie sich zum Protest entschied. Sie wusste, dass regierungskritische Demonstrationen seit dem Putschversuch von der Polizei meist mit großer Härte aufgelöst werden. "Aber ich wollte keine Demonstration veranstalten. Ich will nur meinen Job zurück." Dass sie sich nur auf ihre Suspendierung konzentriert, nutzt ihr im Kampf um ihre Würde gegen einen Mann, der ihr alles nehmen will.

Es war Nuriye Gülmen nicht vorgezeichnet, an eiskalten Wintertagen im Zentrum Ankaras den mächtigen türkischen Präsidenten Erdogan herauszufordern. Sie stammt aus einer streng konservativ-religiösen Arbeiterfamilie aus der Provinz Küthaya in der Nähe der Metropole Eskisehir, zwischen Ankara und Istanbul. "Meine Eltern sind sehr fromm, meine Mutter und meine Schwestern tragen das Kopftuch, sie wählen Erdogan, nur ich bin aus der Art geschlagen", sagt sie lachend.

Dreieinhalb Monate im Hochsicherheitsgefängnis

Nach der Matura arbeitete Gülmen als Stewardess, studierte vergleichende Literaturwissenschaft in Ankara und begann 2010 eine akademische Karriere an der Universität in Eskisehir. An der Uni kam sie mit linken Ideen in Berührung. Obwohl Gülmen nie in eine Partei eintrat, entfernte sie ihr politischer Weg immer mehr von dem Milieu, in dem Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP ihre Anhänger findet. Sie wurde eine aktive Gewerkschaftlerin.

In Eskisehir lief sie wegen ihrer Teilnahme an linken Demonstrationen stets Gefahr, ihre Dozentenstelle zu verlieren. "Dauernd wurden Disziplinarberichte über mich geschrieben, unter anderem, weil ich singend einen Gang entlanggelaufen war." 2012 wurde sie wegen angeblicher Terrorpropaganda dreieinhalb Monate in ein Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt. Nach ihrem Freispruch durfte sie zwar wieder arbeiten, doch als ihr Dozentenvertrag 2015 auslief, weigerte sich die Hochschule, ihn zu verlängern. Gülmen klagte und gewann ihren Prozess am 30. September. Inzwischen hatte man ihr eine neue Stelle in der erzkonservativen Stadt Konya zugewiesen.

Doch am ersten Arbeitstag sollte sie dort einen Bogen mit 42 Fragen ausfüllen, in dem es vor allem um den Putschversuch und die Gülen-Bewegung ging, die jetzt als "Fethullahistische Terrororganisation" (FETÖ) bezeichnet wird. Gülmen erinnert sich an Fragen wie: "Haben Sie jemals mit der Bewegung sympathisiert? Haben Sie jemals Fethullah Gülen getroffen? Glauben Sie, dass FETÖ hinter dem Putschversuch vom 15. Juli steckt?" Sie war schockiert. "Keine einzige Frage beruhte auf einem konkreten Verdacht. Aber einige Fragen sollten mich zwingen, meine Gedanken zu offenbaren und andere Leute zu denunzieren. Das war total inakzeptabel, und das sagte ich denen auch." Als sie nach dem Wochenende wiederkam, erhielt sie den Suspendierungsbescheid.

Strafe wegen "Nichtbefolgung von Polizeibefehlen"

Nuriye Gülmen überlegte einen Monat lang, was sie tun sollte. Sie beriet sich mit Freunden aus der Gewerkschaft und entschied sich, in Ankara zu protestieren, wo alle Regierungsstellen liegen. Zwar sagten ihr viele Freunde Unterstützung zu. Doch als sie schließlich loslegte, stand sie fast allein in der Fußgängerzone. "Alle haben Angst - vor dem Gefängnis, vor Misshandlungen, vor der Arbeitslosigkeit", erklärt sie diese Zurückhaltung. Genau das sei es, was die Regierung mit dem Ausnahmezustand erreichen wolle: Einschüchterung. Die Abschaffung aller Arbeitnehmerrechte.

Es half nichts, dass Gülmen ihren Freunden erklärte, dass es Tausenden genauso gehe und sie mit dem gemeinsamen Protest ihre Arbeit vielleicht zurückbekommen würden. "Ich komme aus der Tradition des friedlichen Protestes. Ich weiß: In diesem Land bekommst du nur etwas, wenn du die Grenzen überschreitest, die die Regierung dir zieht. Wir haben das Recht, uns friedlich gegen das Unrecht zu wehren. Aber die Angst ist zu groß." Nur eine Handvoll Kollegen begleiteten Gülmen am 9. November, als sie erstmals am Menschenrechtsdenkmal ihre Plakate in die Luft hielt. Kaum wollte sie eine Presseerklärung verlesen, nahmen Polizisten sie fest. "Sie warfen mir vor, das Demonstrationsrecht verletzt zu haben, und hielten mich fünf Stunden im Gewahrsam."

Am nächsten Tag kam sie zur gleichen Zeit an dieselbe Stelle. Wieder wurde sie nach zwei Minuten festgenommen. Diesmal warf man ihr Erregung öffentlichen Ärgernisses vor und brummte ihr eine Strafe von umgerechnet 30 Euro auf. An anderen Tagen war es das Doppelte - für "Nichtbefolgen von Polizeibefehlen". Weil sie sich weigerte, freiwillig mitzukommen, trugen sie stets fünf oder sechs Polizisten mit Gewalt weg. "Ich habe davon schmerzhafte Druckstellen davongetragen. Im Einsatzwagen wurde ich übel beschimpft, manchmal zerrten sie mich auf der Wache brutal auf den Boden."

Doch inzwischen hat die Polizei wohl die Lust an dem Ritual verloren. Seit Anfang Dezember wird die Aktivistin nur noch sporadisch mitgenommen. "Ich bin so glücklich darüber, als hätte ich schon meine Arbeit zurück", sagt sie. "Leute können herkommen und ihre Meinung sagen, ohne festgenommen zu werden." Gülmen ist längst nicht mehr allein. Oft stehen Freunde mit ihr am Denkmal. Wildfremde drücken ihre Solidarität aus. Doch die Polizei hat sie gewarnt: Sollte sich eine größere Gruppe bilden, würden alle festgenommen.

Gülmens Unterstützerwerden selbst verfolgt

An diesem kalten Tag kommen immer wieder Freunde vorbei, die heißen Tee, warme Börek-Teigtaschen oder süßes Gebäck bringen. Die meisten gehören der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen an, die Gülmens Aktion zwar ideell, aber nicht praktisch unterstützt. Tatsächlich müssen Gülmens Unterstützer fürchten, selbst verfolgt zu werden. Eine Gymnasiastin, die ihr zur Seite stand, wurde nicht nur festgenommen, sondern auch von ihrer Schule verwiesen.

Trotzdem schloss sich der Volksschullehrer Semih Özakca, ein langjähriger Freund Gülmens, Ende November ihrem Protest an, nachdem er seine Arbeit im südostanatolischen Mardin verlor. "Ich halte es für meine Pflicht, Widerstand zu leisten", sagt Özakca. Er wurde fünf Mal zusammen mit Gülmen festgenommen und sei dabei von der Polizei geschlagen worden, berichtet der 27-jährige aktive Gewerkschafter. "Es ist ein Scherz, uns mit den Gülenisten in Verbindung zu bringen, denn wir haben sie immer bekämpft, als Erdogan und die AKP mit ihnen noch Händchen hielten." Nur mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft kämen sie derzeit finanziell über die Runden. Gülmen sagt, sie könne jeden verstehen, der nicht so mutig sei. Es sei wohl gut, dass sie weder Familie noch Kinder habe. "Sonst würde ich vielleicht auch anders reden." Aber sie hofft, dass ihr Beispiel Schule macht.

Als Gülmen und Özakca ihre Transparente am Abend einrollen, kommt ein 52-jähriger Pädagoge aus der Mittelmeerstadt Izmir auf sie zu. Er sei vor eineinhalb Monaten entlassen wurde, weil er ebenfalls Mitglied der Gewerkschaft sei. "800 Lehrer in Izmir wurden ohne spezifischen Grund suspendiert." Er ist nach Ankara gekommen, um sich bei Gülmen zu informieren, wie man den Protest organisieren könne. "Wir bewundern dich alle!", sagt er.

Der Lehrer aus Izmir will kämpfen. Doch tausende von Akademikern, vor allem jüngere, haben resigniert und die Türkei verlassen. Tausende sind auf dem Sprung ins Ausland. Nuriye Gülmen hält davon gar nichts. "Ich werde hierbleiben", sagt sie bestimmt. "Das ist mein Land, hier sind meine Familie, meine Freunde, meine Wurzeln. Die Regierung soll verschwinden - nicht wir."

Nuriye Gülmen will trotz der Kälte weitermachen, bis ihr Protest Erfolg hat. Sie denkt jetzt darüber nach, einen Hungerstreik zu beginnen. Am nächsten Tag geht sie mittags wieder zum Menschenrechtsdenkmal, verteilt ihre Flugblätter und ruft: "Wir geben nicht auf! Leute, unterstützt uns! Wir werden siegen!" Zwei Polizistinnen in Zivil stehen daneben und filmen sie stumm.