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Die Illusion einer Disziplinar-Union

Von Thomas Seifert

Politik

"Permanente Rezession in Südeuropa wäre der wahre Alptraum."


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"Wiener Zeitung": Herr Wolf, Sie sind ein scharfer Kritiker der Austeritätspolitik.Martin Wolf: Die ersten zwei Jahre nach der Krise machte Europa im Wesentlichen das richtige. Dann kam 2010 die Griechenland-Krise, beim Treffen der G7-Finanzminister und Notenbanker kam im Winter 2010 im kanadischen Iqaluit die Wende. Alle setzten plötzlich auf Austeritätspolitik und begannen gleichzeitig zu sparen. Die schwachen Länder mussten tatsächlich sparen, aber die starken Länder begannen ohne Not auch zu sparen. Seither ist die Nachfrage in Europa absolut schwach, es gibt so gut wie kein Wachstum mehr.

Am Ende war es EZB-Chef Mario Draghi, der Europa vor einem völligen Desaster gerettet hat.

Ja, mit den Outright Monetary Transaction- (OMT) und Long Term Refinancing Operation (LTRO)-Programmen.

Mit LTRO wurden die europäischen Banken ab Dezember 2011 mit hunderten Milliarden Euro versorgt, mittels OMT wurden Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten gekauft, um die Zinslast der verschuldeten Staaten zu drücken.

Damit ist es der EZB gelungen, die schwere Wirtschaftskrise in den südlichen Ländern ein wenig einzudämmen. Aber niemand hat wirklich genug auf das Nachfragedefizit geachtet. Der Politikmix in Europa ist viel zu rigide, für die Peripherie ist der Politikmix monströs zu eng. Diese Länder sind in einer Depression. Denken Sie an Spanien: Die Nachfrage ist um 20 Prozent eingebrochen, die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 25 und 30 Prozent. Und Spanien ist nicht Griechenland, sondern ein eminent wichtiges Land der Eurozone. Sie haben es geschafft, eine interne Abwertung durchzuführen, aber die Eurozone exportiert nun Arbeitslosigkeit in den Rest der Welt.

Werden die Länder der Europäischen Union die Krise überstehen?

Die richtige Frage lautet: Werden diese Länder genügend politische Stabilität haben, um durch die Krise zu kommen? Es wird noch Jahre, vielleicht bis 2020 dauern, bevor die Arbeitslosigkeit in Spanien auf sieben oder acht Prozent zurückgeht. Die politischen Folgen so hoher Arbeitslosigkeit sind völlig unvorhersehbar.

Die Große Depression in den 1930er Jahren spielte sich vor dem Hintergrund eines Europa ab, das sozial und politisch völlig instabil war.

Heute wird niemand in den Krieg ziehen. Die EU bietet einen institutionellen Rahmen, Europa ist ein alternder Kontinent.

Ist der Euro gerettet?

Meine Beziehung zum Euro ist kompliziert. Mitte der 90er Jahre sagte ich bei einem Vortrag in der Nationalbank in Wien, dass ich nicht weiß, wie dieses System für ganz Europa funktionieren soll. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Währungsunion zwischen Österreich, Deutschland und den Niederlanden funktionieren kann. Immerhin: Österreich war nach dem Krieg immer in einer Währungsunion mit Deutschland. Aber sobald es um Italien, Spanien oder sogar Frankreich geht, ist das eine andere Sache. Ich sah immer ein Problem darin, dass es keine Währungsanpassung geben kann. Alle Anpassungen müssen im Euro-System über die Änderungen von Preisen und Löhnen erfolgen. Wenn man nun ein sehr niedriges Inflationsziel für die Eurozone hat und große Unterschiede in der wirtschaftlichen Aktivität, dann bekommt man fallende Löhne. Das ist natürlich besonders schwierig auf einem Kontinent, der ein sehr rigides Arbeitsrecht hat.

Es gibt Kritiker von Links, die den Euro mit dem Goldstandard vergleichen - mit ähnlichen Problemen, die der Goldstandard geschaffen hatte.

Der Euro ist natürlich kein Goldstandard, denn es gibt ja eine Zentralbank. Und die EZB hat am Höhepunkt der Krise wie ein europäischer Währungsfonds funktioniert. Wenn der Euro ein Goldstandard wäre, dann wäre das System längst zerbrochen. Aber der Euro ist ein Goldstandard plus: Kredite aus Überschussländern gehen an die Defizit-Länder. Und das verursacht natürlich politische Probleme. Ich war immer der Auffassung, dass es nicht plausibel ist, dass so ein System funktionieren kann, ohne dass daraus ein föderaler Staat entsteht.

Davon war aber im Vertrag von Maastricht, in dem im Dezember 1991 die Geburt des Euro vereinbart worden war, keine Rede.

Genau. Die deutsche Sicht der Dinge war: Wenn wir keine Fiskalunion bekommen, dann liegt die Lösung in der Schaffung von Regeln, den berühmten Maastricht-Kriterien etwa. Aber ich glaube nicht an Verträge, denn wer soll Verträge zwischen souveränen Staaten durchsetzen? Und vor allem: Wie? Da kommt es unweigerlich zu Konflikten zwischen demokratisch gewählten Regierungen und der EU-Kommission. Deutschland glaubte an eine Disziplinar-Union. Wie soll man nun mitten in der Krise die Institutionen und das Regelwerk schaffen? Sehr schwierig.

Sind Sie immer noch dieser Meinung?

Ich hätte noch vor einiger Zeit gesagt, dass die Chancen für einen Erfolg bei unter 50 Prozent liegen. Heute bin ich der Meinung, dass die Gefahr des Scheiterns bei unter 50 Prozent liegt. Der Wille zur Reform ist größer als gedacht, aber wir sind immer noch ein schönes Stück von einem europäischen Föderalstaat entfernt. Wenn das Projekt langfristig überleben will, muss es mehr wie ein Bundesstaat werden. Die EU wird nur dann überleben, wenn sie politisch legitimierte Institutionen schafft. Am Ende geht es immer darum, ob der Wille der Bürger der Länder Europas stark genug ist, zusammen zu bleiben.

Und beim Geld hört die Freundschaft auf, wie man in Österreich sagt.

Geld ist eine hochpolitische Sache. Geld wird von Staaten kreiert, wir haben nicht den Goldstandard, wir leben nicht einer Gold-Welt. Ist der politische Wille zu kooperieren groß genug, um die Schwierigkeiten zu überwinden? Genau darum geht es. Aber die Krise treibt die Menschen Europas auseinander. Die Menschen im Norden und Süden sind auseinandergedriftet, weil sie die Krise auf sehr unterschiedliche Art und Weise getroffen hat. Während des Booms gingen monströse Summen nach Irland, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland. Diese Länder hatten teilweise ein Leistungsbilanzdefizit von mehr als 10 Prozent, viele Jahre lang finanzierten Deutschland und Frankreich diese Leistungsbilanzdefizite. Das konnte nicht gutgehen.



In Kerneuropa erzählt man den Menschen, man würde mit ihren Steuergeldern Griechenland oder andere Schuldnerländer in der europäischen Peripherie unterstützen. Dabei ging es vor allem um die Rettung der Gläubigerbanken in Kerneuropa.

Wenn die EZB und zu einem geringeren Grad der IWF, der EFSF und später der ESM den Banken in den Schuldnerländern nicht geholfen hätten, dann wären diese Banken kollabiert und hätten die Gläubigerbanken mit in den Abgrund gerissen. Diese Hilfen haben es den Schuldenstaaten erlaubt, den Kollaps zu vermeiden. Geld ist an die Schuldenländer geflossen und das hat den Regierungen und Banken erlaubt, den privaten Sektor wieder zu finanzieren. So wurden Massenbankrotte verhindert und somit auch die Banken in Kern-Europa über Wasser gehalten. Im Kollaps-Szenario hätten Sie nämlich all diese Verbindlichkeiten abschreiben müssen. Sie haben aber vollkommen recht: Den Deutschen oder den Niederländern ist nicht erzählt worden, dass es auch um die Ansprüche der Banken in Kerneuropa auf die Verbindlichkeiten dieser Länder ging. Und es wurde nicht gesagt, dass auch eine Verantwortung von Kreditgebern existiert. Wenn man Geld an jemanden verleiht, der das nie zurückzahlen kann, dann ist man ebenfalls mitverantwortlich. Was die Schulden-Länder erlebt haben, ist eine immense Reduktion des Lebensstandards und kolossale Arbeitslosenzahlen. Niemand dort hat eine Ahnung, wann das alles endlich aufhört und die Menschen dort sehen nichts von all dem Geld, das da hineinfließt. Was sie freilich nicht realisieren: Auf diese Weise sind ihre Banken vor dem Kollaps gerettet wurden. Aber das Resultat ist auf beiden Seiten - bei den Gläubigern und Schuldnern - Groll und Feindseligkeit.

Das alles fand aber nicht im luftleeren Raum statt.

Stimmt. Es gibt für alles auch einen makroökonomischen Kontext. Das Problem war, dass es in den hochentwickelten Industriestaaten ohne wirtschaftliche Blasen einen chronischen Mangel an Nachfrage gab. Um diesen chronischen Nachfragemangel zu kurieren, haben wir also immer wieder Blasen geschaffen. Und der Finanzdienstleistungssektor war das Vehikel, mit dem wir diese Medizin verabreichten. Wir machten das auch mit Geldpolitik, leider nicht mit Fiskalpolitik. Die Geldpolitik war aber in den meisten Ländern ziemlich locker. Und sie musste auch locker sein, um diese Nachfrage zu generieren.

Welche Auswirkungen hatte das auf die Eurozone?

Auf Deutschland hat diese Geldpolitik keinerlei Auswirkung. Ganz im Gegenteil. Die Deutschen hielten sich mit ihrer Nachfrage zurück, die Reallöhne sanken, die Konkurrenzfähigkeit stieg, der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert und die Unternehmens-Profite stiegen. Der deutsche Industriesektor generierte unglaubliche Handelsbilanzüberschüsse, so etwas hatte es seit den 90er Jahren nicht mehr gegeben. Deutschland wurde immer mehr von Nachfrage von außerhalb der Landesgrenzen abhängig. Ein Drittel des Nachfragewachstums kam in Deutschland nun aus dem Export.


Was heißt das nun für die Zukunft von Exportnationen wie Deutschland oder Österreich?

Kann Deutschlands exportbasierte Wirtschaft funktionieren, ohne dass irgendjemand irgendwo auf dem Planeten viel Geld - vielleicht zu viel Geld -ausgibt? Aus Europa kann die Nachfrage ja derzeit nicht kommen, also muss jemand anderer konsumieren. Das war in Vergangenheit vor allem China. Aber ist das eine stabile, nachhaltige Nachfrage? Ich glaube nicht. Die Weltwirtschaft bleibt weiter instabil. Die Welle der Krisen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben, ist ein Symptom dieser Instabilität.

Wie lautet die Lösung?

Wir brauchen Regulierung, aber das wird nicht genügen. Die Eurozone versucht, ihre Makro-Probleme wegzuexportieren. Die These: Wenn die Eurozone wieder auf die Beine kommen will, dann muss sie über einen längeren Zeitraum hinaus Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Ich kann aber nicht erkennen, dass sich die private Nachfrage in der Peripherie der Eurozone so rasch erholen wird. Mir ist nämlich nicht klar, gegenüber wem die Eurozone diese Arbeitsplätze schaffende Leistungsbilanzüberschüsse erzielen will. Der wahre Alptraum wäre, wenn sich Südeuropa in einer permanenten Rezession wiederfände. Da stellt sich die Frage: Wie lange wird die Geduld der Bürgerschaft in Südeuropa ausreichen? Wenn wir in drei oder vier Jahren etwa in Spanien immer noch 35 Prozent Arbeitslosigkeit haben, was passiert dort dann eigentlich? Das weiß niemand.

Wie geht es mit Großbritannien weiter? Bleibt der Staat in der EU?

Ich tendiere zur Meinung, dass aus verschiedenen Gründen eine Neuverhandlung unserer britischen Position in der EU sehr implausibel ist. Ich könnte mir einige Veränderungen in nichtwirtschaftlichen Aspekten der EU vorstellen, etwa in Fragen des Rechts. Aber in den Kernelementen der Wirtschaftspolitik des gemeinsamen Markts wird sich rein gar nichts verändern. Wenn, müssen uns also die Frage stellen: Wollen wir Briten Teil des gemeinsamen Marktes sein oder nicht? Die Alternativen sind recht simpel: Entweder akzeptieren wir die Regeln und bleiben, oder wir tun das nicht und gehen.



Das vollständige Interview finden Sie auf unserer Homepage unter www.wienerzeitung.at/eurokrise

Zur Person





Martin Wolf studierte in Oxford und ist Chefkommentator der renommierten "Financial Times". Der Sohn eines Schauspielers und Filmemachers mit Wiener Wurzeln gilt als einer der angesehensten und einflussreichsten Wirtschaftskommentatoren weltweit. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Why Globalization Works" (2004) und "Fixing Global Finance" (2008). Er war im Rahmen des "FT Business of Luxury Summit" in Wien.