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Die immerwährende Neutralität ist zeitlos

Von Günther Greindl

Gastkommentare
Günther Greindl ist General i. R. Er war Force Commander der UN-Friedenstruppen in Syrien/Israel, Zypern und Irak/Kuwait. Bis 1999 leitete er die Generalstabsgruppe für Sicherheitskooperation im Verteidigungsministerium, von 2000 bis 2002 war er erster Militärrepräsentant Österreichs bei der EU und der Nato. Er ist Gründungspräsident der Vereinigung Österreichischer Peacekeeper und Präsident des Vereins "Aufbruch-Österreich".
© privat

Sie ist ein Baustein der internationalen Sicherheit und eine Stimme des Friedens, auch in Zeiten des Krieges.


Derzeit wird immer wieder öffentlich zur "ergebnisoffenen" Diskussion über die Neutralität aufgerufen. Sie sei nicht mehr zeitgemäß und für unser selbstbewusstes und souveränes Land unwürdig. Würde man sich diese Ansichten zu eigen machen, müsste Österreich seine Neutralität sofort beenden und schleunigst der Nato beitreten. Es gibt jedoch gute Gründe, die für unsere Neutralität sprechen.

Österreich bekennt sich im Neutralitätsgesetz aus freien Stücken zur immerwährenden Neutralität. Sie ist ein Versprechen an die Weltgemeinschaft, auf Gewaltanwendung für immer zu verzichten. Dieses Versprechen ist an keine moralischen Bedingungen geknüpft und gilt in Zeiten des Friedens und des Krieges. In Zeiten des Krieges ist die Neutralität eine Stimme für den Frieden. Sie ist Ausdruck unserer Selbstbehauptung als souveränes, friedliches Land. Sie ist ein zivilisatorischer Fortschritt in vollkommener Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen und der Europäischen Sicherheitscharta, die 1999 in Istanbul von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beschlossen wurde.

Die Neutralität ist der Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet, das für das friedliche Zusammenleben der Staaten die Grundlage bildet. Nur so ist sie ein glaubwürdiger Baustein der internationalen Sicherheit. Neutralität heißt nicht, dem internationalen Geschehen unbeteiligt zuzusehen. Es ist ihr Anliegen, vertrauensbildende Maßnahmen zu fördern und die Entstehung neuer Feindbilder zu verhindern. Sie kann in Konflikten einseitige Betrachtungen und Vorurteile hintanstellen und einen ungetrübten Blick bewahren. Das befähigt neutrale Staaten, die Hintergründe von Konflikten auszuloten, die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Akteure zu erkennen und für die Lösung von Konflikten gute Dienste anzubieten. Es ist die Kunst und Verpflichtung einer gut geführten Neutralitätspolitik, zum richtigen Zeitpunkt der friedlichen Streitbeilegung zu dienen.

Neutralität kann schützen

Weiters wird behauptet, die Neutralität könne uns nicht schützen. Die neutrale Schweiz konnte ihre staatliche Unversehrtheit immerhin bereits 200 Jahre lang erhalten. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens liegt die Schweiz in einem geostrategischen Raum, der für die Kriegsführung in Europa von geringer Bedeutung ist. Zweitens hat sie sich auf die Verteidigung ihrer Neutralität "mit allen zu Gebote stehenden Mitteln" glaubwürdig vorbereitet. Drittens war die Schweiz auf vielen Gebieten für die internationale Gemeinschaft nützlich, sei es durch das Internationale Rote Kreuz, den Sitz internationaler Organisationen, die humanitäre Hilfe und die glaubwürdige Neutralitätspolitik.

Österreich ist ebenfalls in einer geostrategisch günstigen Lage und Sitz zahlreicher internationaler Organisationen. Das langjährige militärische Engagement Österreichs im Rahmen der UN-Friedenssicherung, das im Jahr 1988 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, fällt zusätzlich ins Gewicht. In der Verteidigung unseres Landes hinken wir der Schweiz hinterher. Wir sollten uns an deren militärischen Fähigkeiten ein Beispiel nehmen. Die überwiegende Zahl der Gefahren ist laut Analysen des Verteidigungsministeriums nicht militärischer Natur und berührt die Neutralität nicht. Wie Österreich militärische Bedrohungen einschätzt und diesen begegnet, liegt in seiner Eigenverantwortung. Als neutraler Staat ist es allerdings verpflichtet, seine Verteidigung so zu gestalten, dass sein Territorium und sein Luftraum von keiner Kriegspartei genutzt werden können.

Eine andere Lage im Norden

In den Medien liest man derzeit, Finnland und Schweden hätten Österreich bereits sicherheitspolitisch überholt. Diese Behauptung geht davon aus, dass Österreich in der Nato sicherer wäre. Diese beiden Länder sind aber in einer anderen Lage. Ein Landkrieg mit Russland würde vor allem Nordeuropa treffen. Die Chancen, sich aus einem Krieg herauszuhalten, sind für Österreich sehr hoch. Hingegen wäre Österreich als Mitglied der Nato im Falle eines Angriffes auf ein Nato-Land automatisch Kriegspartei. Es wäre somit ein legitimes Ziel für russische Angriffe mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen, um Waffenlieferungen der Nato über österreichisches Staatsgebiet durch Zerstörung der Transportinfrastruktur zu unterbinden.

Außerdem bereitet sich die Nato-neu im Einklang mit der US-Sicherheitsstrategie zu "out of area"-Einsätzen vor, die auch den indopazifischen Raum mit einschließen. Ein Beitritt zur Nato brächte also keinen Sicherheitsgewinn für Österreich, sondern eher ein erhöhtes Risiko, in militärische Konflikte, womöglich auch außerhalb Europas, hineingezogen zu werden.

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) ist das Bestreben der EU, möglichst mit einer Stimme zu sprechen. Österreich hat deshalb seine Verfassung geändert, um an den Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, unter Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen, teilnehmen zu können. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll der EU entsprechend ihrer wirtschaftlichen Stärke politisches Gewicht als Friedens- und Handelsmacht verleihen. Dieser Gründungsgedanke ist mittlerweile leider verloren gegangen.

An die Nato gebunden

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die ausschließlich den Interessen der EU dienen soll, wurde im Jahr 2013 - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) an die Nato gebunden. Damals hat der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen festgehalten, dass sich die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in vollständiger Komplementarität zur Nato weiterentwickeln wird.

Solange das so bleibt, wird es dem Geschick unserer Außenpolitik obliegen, gravierende Beschränkungen unserer Neutralität im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik möglichst hintanzuhalten. Die angestrebte Abschaffung der Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss von Österreich in Fragen der Gewaltanwendung jedenfalls abgelehnt werden, da sonst jeglicher Handlungsspielraum für die Neutralität beendet würde.

Die Erkenntnis, dass ein stabiler Friede in Europa nur unter Einbeziehung Russlands möglich ist, hat sich durch den Krieg in der Ukraine nicht geändert. Es kann nicht im Interesse Europas liegen, Russland als ewigen Feind zu betrachten und in die Arme Chinas zu treiben. Es liegt auch nicht im Interesse Europas, sich von Russland auf Dauer abzukoppeln. Immerhin ist der Wohlstand in Europa, gerade in Deutschland und Österreich, mit billiger Energie aus Russland aufgebaut worden. Wer diese Ressource abschneidet, riskiert eine Verarmung Europas, da niedrige Energiepreise der wichtigste Faktor für den Wohlstand einer Gesellschaft sind.

Die Idee eines Friedensraums

Nach Beendigung des Krieges in der Ukraine wird eine grundlegende Neuordnung der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur erforderlich werden. Eine unabhängige EU könnte mit den USA und Russland eine strategische Triade bilden, die Idee eines Friedensraums von San Francisco bis Wladiwostok wieder beleben. Diesen Traum in der EU aufrechtzuhalten, könnte der spezifische Beitrag der österreichischen Neutralität sein, von dem der seinerzeitige Außenminister Alois Mock in seiner Erklärung anlässlich des Beitritts zur EU sprach. Wäre das nicht ein Ziel, für das man die EU-Bürger begeistern könnte?

In diesem Sinne sollte Österreich als Sitzstaat der OSZE eine Initiative für eine Wiener Friedenskonferenz ergreifen. Die OSZE ist eine auf Vertrauensbildung aufgebaute europäische Erfindung der kooperativeren Sicherheit, deren Rahmen für die Verhandlung einer künftigen stabilen Sicherheitsarchitektur bestens geeignet ist. Ein dauerhafter Friedens kann nur unter Einbindung aller Staaten erreicht werden. Die verloren gegangenen Errungenschaften der OSZE wieder zu beleben, wäre das Fundament einer neuen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur.

Die Neutralität Österreichs ist ein guter Weg in die Zukunft, wenn sie als Weg des Friedens mit Überzeugung und Stolz glaubwürdig gelebt wird. Österreich kann als neutraler Staat für den Frieden in Europa mehr tun, als wenn es Mitglied der Nato wäre.