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Die Industrie des Mordes

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Sie haben überlebt: nach der Befreiung des KZ Auschwitz.
© wikipedia

Am 27. Jänner 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit.


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27. Jänner 1945: Sowjetische Truppen der 322. Infanteriedivision erreichen das Konzentrationslager Auschwitz. Es ist ein Samstag. Für gläubige Juden ein geheiligter Tag. Die deutschen Truppen leisten erbitterten Widerstand. Sie wissen: Wird der Welt offenkundig, was in Auschwitz geschehen ist, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Erkennt die Welt die Wahrheit über Auschwitz, werden die Deutschen nie wieder das Volk Goethes und Schillers sein, nie wieder das Volk Hegels und Kants, nie wieder das Volk Gutenbergs und Martin Luthers. Es wird das Volk Adolf Hitlers sein, das Volk der Gaskammern, der Judenvernichtung. Es wird das Volk sein, das Auschwitz gebaut und betrieben hat.

231 Rotarmisten sterben, ehe die deutschen Truppen aufgeben. Als sie die Aussichtslosigkeit der Lage erkennen, sprengen die Deutschen noch schnell die Gaskammern, in der Hoffnung, die Beweise für ihre Verbrechen zu zerstören. Dass die wahren Beweise die noch lebenden Häftlinge selbst sind, die Zeugnis ablegen werden, ist ihnen in diesem Moment glücklicherweise nicht klar.

7500 gerettet - viele sterben

Rund 7500 Menschen werden von der Roten Armee gerettet - zumindest für den Moment. Sie sind ausgemergelt, am Ende ihrer Kraft. Viele freilich sind nicht mehr im Lager, sie mussten, als die Rote Armee näherrückte, Todesmärsche in andere Lager antreten. Selbst in völlig aussichtsloser Lage und ohne strategische Notwendigkeit bringen die Nationalsozialisten weiter tausende Menschen zu Tode: Von den 56.000, die Tag und Nacht in klirrender Kälte vorangetrieben werden, gehen 15.000 zugrunde. Ihre Leichen säumen den Wegrand.

Viele der in Auschwitz Befreiten sterben in den Tagen nach der Befreiung an Krankheiten, an Erschöpfung, an dem seltsamen Phänomen, dass Menschen auch dann sterben, wenn sie lange Zeit einer großen Belastung ausgesetzt waren und diese Belastung plötzlich von ihnen genommen wird. Auch sie, sie alle, gehören zu den Ermordeten.

Adolf Hitler hat die Vorgaben gemacht für die sogenannte "Endlösung der Judenfrage". Adolf Eichmann leitet das "Referat für Judenangelegenheiten des Reichssicherheitshauptamtes", das der SS untersteht. Eichmann ist der Organisator des Massenmordes. Der Mann aber, der sich
Auschwitz ausdenkt und durchführen lässt, ist Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, Chef der Deutschen Polizei, ab 1943 Reichsinnenminister. Ein Spintisierer, der von einem arischen Kult träumt, in dem an die Stelle eines Gottes die Reinheit des Blutes tritt. Unreines Blut muss, geht es nach ihm, der sich für den Nachfahren einer heidnischen Hexe hält, ausgetilgt werden.

Am 27. März 1940 ordnet Himmler die Errichtung dieses ersten Konzentrationslagers an. Der Ort Auschwitz (polnisch: Owiêcim) bei Krakau scheint ihm ideal gelegen: Unschwer lässt er sich an die Bahn anbinden. Der erste Häftlingstransport trifft am 20. Mai 1940 ein.

Das KZ Auschwitz besteht aus mehreren Komplexen. Das Stammlager Auschwitz I wird zuerst errichtet. Es ist als Quarantäne- und Durchgangslager für verhaftete polnische Staatsangehörige geplant, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt werden sollen.

Im März 1941 ordnet Himmler die Vergrößerung des Lagers an. Im Oktober 1941 beginnt der Bau des Vernichtungslagers Auschwitz II-Birkenau. Im ersten Halbjahr 1943 nehmen die Gaskammern und Krematorien ihre verabscheuungswürdige Arbeit auf.

Am 28. Oktober 1942 geht das KZ Auschwitz-Monowitz in Betrieb, in dem Zwangsarbeiter untergebracht sind. Errichten ließ es das Chemieunternehmen IG Farben, das auf diese Weise zu einer billigen Produktionsstätte kommt. (Der Betrieb existierte an der Börse notiert übrigens bis 9. März 2012.) Dazu kommen rund 50 Außen- und Nebenlager, in denen die Häftlinge an den Lebensbedingungen zugrunde gehen und wohl auch zugrunde gehen sollen.

Grauen in Perfektion

Im September 1941 gibt Lagerkommandant Rudolf Höß die Order, das Giftgas Zyklon B zur Ermordung der Häftlinge einzusetzen. Das Gas ist ursprünglich ein Desinfektionsmittel, seine Dämpfe töten binnen Minuten. Ab 1942 deportiert die SS Juden aus ganz Europa nach Auschwitz. Ab 1943 werden Juden, Sinti, Roma und andere NS-Verfolgte mit geradezu industriellen Methoden ermordet. Das Grauen wird zur Perfektion gebracht.

Die Menschen werden in Vieh- und Güterwaggons nach Auschwitz gebracht. Schon die Art der Verschleppung ist als Erniedrigung gedacht. Anita Lasker, eine Überlebende, schilderte die Ankunft: "Es stand ein Arzt und ein Kommandant bei Ankunft der Transporte an der Rampe und vor unseren Augen wurde sortiert. Das heißt: Man fragt nach dem Alter und dem Gesundheitszustand." Wer krank war, hatte sein sofortiges Todesurteil besiegelt. "Besonders hat man es auf Kinder und Alte abgesehen. Rechts links, rechts links. Rechts ist zum Leben, links ist zum Kamin", schilderte Anita Lasker das Auswahlverfahren.

Wer unmittelbar nach der Ankunft vergast wird und wer vorerst noch überleben darf, entscheiden SS-Ärzte. Einer von ihnen ist Josef Mengele. Als "Todesengel von Auschwitz" geht er in die Geschichte menschlicher Grausamkeit ein. Denn Mengele selektiert nicht nur, er führt auch Experimente durch, an Erwachsenen ebenso wie an Kindern.

Während seines ganzen Studiums der Medizin und der Anthropologie konzentriert sich Mengele auf Rassentheorie. In Anthropologie promoviert er mit der Dissertation "Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnitts bei vier rassischen Gruppen". Das Wort "Rasse" ist in seinem Sprachgebrauch ständig präsent.

In Auschwitz experimentiert er mit den Augen von Kindern - Erblindung ist dabei fast sicher; er führt qualvolle Operationen ohne Narkose durch, experimentiert mit Bluttransfusionen, führt sogenannte Forschungen an Zwillingen durch - alles sinnlos, wissenschaftlich unhaltbar schon im Ansatz.

Weit mehr als eineinhalb Millionen Menschen werden in Auschwitz ermordet. Der Opernliebhaber Mengele pfeift dazu bisweilen Melodien aus Giuseppe Verdis "Rigoletto". Die Alliierten wissen nicht, wie sie mit dem Grauen von Auschwitz umgehen sollen. Es scheint dermaßen unfassbar, dass man um die Glaubwürdigkeit fürchtet. Erst Mitte April 1945 berichten erstmals Überlebende im Deutschen Dienst der BBC über ihre Zeit im Lager.

Die Lehren von Auschwitz

Auschwitz wird zum Symbol dessen, was ein Mensch einem Menschen antun kann. Aber Auschwitz ist auch eine Gefahr: Das so materialisierte Grauen zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Wenn die ganze zivilisierte Welt am 27. Jänner den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begeht, so richtet sich der Blick tunnelartig auf die Zeit des Nationalsozialismus. Nur zu leicht übersieht man dabei den modernen Antisemitismus, der sich als Kritik an Israel tarnt, der sich unter dem Deckmantel einschleicht, dass jüdische Denker extreme Positionen vertreten können, weil sie Juden sind.

Auschwitz wurde am 27. Jänner 1945 befreit - aber der rassistische Antisemitismus ist damit ebenso wenig Geschichte geworden wie der Rassismus an sich. Wer an diesem Montag der Befreiung von Auschwitz gedenkt, möge über diesen Tag hinaus auch gegen jenen Antisemitismus und gegen jenen Rassismus auftreten, den wir in der heutigen Gesellschaft erleben. Denn auch für ihn steht Auschwitz als Mahnmal.