Zum Hauptinhalt springen

Die Intoleranz der Geistsucher

Von Walther Menhardt

Reflexionen

Replik auf den Artikel "Philosophische Falschmünzer" von Norbert Leser im "extra" vom 15.2. 2014, nebst einigen kritischen Anmerkungen zu einem "Presse"-Artikel von Peter Strasser.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Norbert Leser nennt diejenigen, die versuchen, etwas mehr von dieser Welt zu verstehen, "Philosophische Falschmünzer". Peter Strasser nannte seinen Artikel in der "Presse" vom 6. 12. 2013 "Planet der Hirne - Ein geistiger Skandal". In beiden Artikeln werden Philosophen, die auch Naturwissenschafter sind, mit abschätzigen Urteilen versehen. So sollte ein Diskurs nicht geführt werden. Die Naturwissenschaften waren viele Jahrhunderte Teil der philosophischen Fakultät, und ein Großteil derer, die naturwissenschaftliche Studien wählen, tun dies in der Hoffnung, Grundsätzliches über die Welt zu erfahren. Beide Artikel enthalten apodiktisch vorgetragene, nicht näher diskutierte Behauptungen. Einige davon sollte man in Frage stellen dürfen.

Der Mensch, "ein aus sich rollendes Rad" (Nietzsche).
© Cartoon: Jugoslav Vlahovic

Die Frage ist uralt: Ob die Welt aus zwei Sphären besteht, aus dem Stofflichen einerseits und dem Geistigen andererseits, oder etwa nur aus dem Stofflichen mit seinen Gesetzen. Die Meinungen prallen immer wieder scharf aufeinander, und die eine philosophische Partei betrachtet die andere oft mit undifferenzierter Geringschätzung. Die beiden Denkweisen scheinen grundsätzlich verschieden - und zwar die Denkweisen der philosophierenden Individuen. Der Unterschied wirkt so fundamental und ist schon in so früher Jugend entwickelt, dass man den Eindruck gewinnt, er sei bereits bei der Geburt angelegt - so wie die Bevorzugung der rechten oder der linken Hand. Aus dieser Beobachtung soll nicht gefolgert werden, dass Diskussionen zwischen beiden Parteien nie zu erquicklichen Resultaten führen können. Der Hinweis soll nur eine Begründung für die großen Schwierigkeiten solcher Diskussionen liefern.

Der Unterschied liegt in der intuitiven Ontologie, die ein Mensch bereits hat, bevor er kritisch zu denken beginnt. Zu den Bausteinen der Ontologie, die in jedem von uns angelegt sind, gehören in erster Linie Elemente des sogenannten Lebendigen: Das Du, der Feind, die Liebe, die Hilfe, die Hoffnung. Für unsere fernen Ahnen gab es wahrscheinlich kaum ontologische Elemente außerhalb des Lebendigen. Auch ein Stein oder Baum war eine Person.

Auch heute spielt sich unser tägliches Leben im Reich der Begriffe des Lebendigen ab. Wir können gar nicht anders leben. Wir hätten kein Müssen, kein Sollen, keine Freude. Auf der Ebene des Gefühls sind auch heute noch ein Berg und ein Fluss, die offiziell tote Dinge sind, Personen. Geht man mit einem Freund im Park spazieren und spricht über Aktienkurse oder die Tragfähigkeit einer Brückenkonstruktion, und kommt man dann zu einem Baum und legt die Hand auf die Rinde, dann hat man irgendwo tief unten das Gefühl, der Baum sei ein Wesen, ein Kamerad. Und der Berg, in der Ferne: Er ruft. Und der Hammer, der einem auf die Zehen fällt, ist bösartig.

Aber dann kam Adam. Zur Geschichte von der Übertretung des Gebotes gibt es viele Deutungen. Nehmen wir diese: Adam ist zunächst der auf der Grundlage der Gemütsbausteine des Lebendigen lebende Mensch; er ist das Kind, das Nietzsche als "aus sich rollendes Rad" beschreibt: "Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad". Adam aber beginnt über sich selbst nachzudenken, Fragen zu stellen, nach Erkenntnis zu gieren. Mithilfe der Bausteine, aus denen er selbst besteht, will er ebendiese Bausteine verstehen. Und daran musste er scheitern. Daran scheitern wir seither. Aber es ist zugleich das Herrliche und das Tragische der menschlichen Verfassung, dass die Lust zu fragen oder auch die Sucht zu fragen unveräußerlich zum Menschen gehört.

Denken in Gesetzen

Das Paradies hat Adam verlassen. Es ist uns, zumindest als Spezies, nicht möglich, zu sagen: "ignorabimus", "wir werden es nicht wissen". Selbst wenn wir uns eingestehen, dass wir mit unseren Mitteln nie zu einem vollständigen Wissen kommen werden, bleibt das Fragen virulent, nicht unterdrückbar.

Zum Fundus der Bausteine der Ontologie, mit der wir operieren, sind auch nicht-animalische Elemente hinzugekommen. Etwa, dass ein Apfel, der prekär an einer Kante liegt, nicht aus eigenem Willen herunterspringt, sondern, weil er Übergewicht bekommt, und dass dies ein Gesetz ist, ein Gesetz, das Liebe, Hass und Übermut nicht kennt. Dieses Denken in Gesetzen ist nur langsam über unzählige Generationen gewachsen und es steht auch heute, in jedem von uns, in ständiger Konkurrenz mit dem animalischen Denken. Aber es wächst auch in den Sprachgebrauch: Wir gehen nicht mehr 1000 Schritt, wir gehen 700 Meter.

Der Unterschied der Denkweisen manifestiert sich auch in der Deutung des "Bösen". Ein großer Teil der Menschheit glaubt an böse Mächte, an ein Böses, das eigenmächtig wirkt. Bis in die jüngste Zeit erklärt die katholische Kirche, der Teufel sei ein lebendiges Wesen, wenn auch nicht körperlich, ein Wesen, das ständig versucht, uns zu schlechten Taten zu verleiten.

Andere, in der Hoffnung rational denken zu können, suchen nach Umständen, die als Resultat eine böse Tat liefern, überlegen, welches Konglomerat von Gefühlen und Erfahrungen den Täter zu seiner Aktion gebracht hat.

An dieser Stelle der Diskussion wird oft die Frage der Verantwortung aufgeworfen, und es wird gesagt, dass eine Person, die vom "Konglomerat von Gefühlen und Erfahrungen" bestimmt wird, nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Ein übergeordnetes, von der Situation unabhängiges Ich sei die Person, sie stehe über den Gefühlen und Vorgängen im Gehirn, die Überlegungen darstellen. Diese unabhängige Person sei gut oder böse und treffe die Entscheidungen.

Aber: Auch dieses Über-Ich müsste seine Entscheidung überlegen. Hätte es dafür andere Grundlagen als ein "Konglomerat von Gefühlen und Erfahrungen"?

Die Überzeugung, dass unter "Gesetz" und "Verantwortung" weit mehr zu verstehen ist als eine Gegenüberstellung von veröffentlichten Werten und persönlichen Werten, sitzt tief. Es gibt die Ansicht, das Ich hätte Anschluss an eine außerhalb der Person stehende moralische Instanz. Vielleicht ist das so. Aber darf man dazu nicht Fragen stellen ?

Auch für den amerikanischen Philosophen Thomas Nagel sind Werte mehr als ein nach erweiterten darwinistischen Prinzipien gewachsener Konsensus über Verhaltensweisen, die für das Individuum und die Gemeinschaft ein Optimum darstellen. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Geist und Kosmos" schreibt er: "Dennoch bin ich weiter überzeugt, dass Schmerz wirklich schlecht ist und nicht bloß etwas, was wir hassen, dass Lust wirklich gut ist und nicht etwas, was wir mögen. So scheinen sie mir nun einmal, wie sehr ich mich auch bemühe, mir das Gegenteil vorzustellen."

Diese intuitive Vorstellung, die auch, wie Nagel andeutet, durch Reflexion nicht abgeschüttelt werden kann, zeigt, wie sehr die Richtung philosophischer Untersuchungen von den Eigenschaften der philosophierenden Person abhängig ist. Denn ein anderer fragt sich, warum hinter dem konkreten Fall eines Schmerzes noch ein allgemeines Element des Schmerzes sein soll, das dann die Qualität "schlecht" hat, warum es eine platonische Idee des Schmerzes geben soll, von der der konkrete Schmerz nur ein Fallbeispiel ist. Dieser andere Philosophierende wird es schwer haben, sich in die Gedanken Nagels hineinzufinden.

Universelle Vernunft?

Noch ein Beispiel für die individuellen Unterschiede philosophischer Bemühungen: Piaget sagte, sein ganzes Streben sei es, das Erlangen von Wissen als biologische Funktion zu erklären. Von anderer Seite steht dem die Überzeugung gegenüber, die Erkenntnis sei das Wirken einer apersonalen, universellen und ahistorischen Vernunft. Norbert Leser sagt: "Vernunft und Bewusstsein können nicht an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit entstanden sein, sondern müssen schon in der Ewigkeit, ja im Ewigen selbst, angesiedelt werden." Das ist sein Gefühl, und vielleicht hat er recht. Aber er formuliert es kompromisslos. Und er verwendet das Wort Ewigkeit so, als wisse irgendjemand von uns, was Ewigkeit ist und bedeutet.

In seinem Artikel "Planet der Hirne. Ein geistiger Skandal" geht Peter Strasser mit Naturalisten grob um. Die erste Reaktion nach dem Lesen seines Essays ist der Eindruck, er wolle das Nachdenken verbieten, damit das Geistige in unserer Welt erhalten bleibe. Es sei hier zunächst festgestellt, dass ein Naturalist, wenn er sich nicht gerade bei seiner Wahrheitssuche den Kopf zerbricht, sehr wohl in der Lage ist, das Wunderbare eines Sonnenaufgangs zu empfinden - und zwar: innig zu empfinden. Der Naturalist empfindet denselben Schmerz wie der Dualist, wenn sein Daumen gequetscht wird. Aber er will wissen, warum. Er lässt das Staunen zu. Er ist ein Suchender.

Peter Strasser spricht vom Dogma des naturalistischen Standpunkts. Das ist ein Widerspruch in sich. Es gehört zum Grundprinzip der naturwissenschaftlichen Methode, frei von Dogmen zu sein. Man geht von Indizien und, ja, von Gefühlen aus und entwirft eine Theorie. Dann wird die Theorie geprüft. Das Entwerfen einer Theorie ist notwendig, um überhaupt Schritte machen zu können. Wenn man eine Theorie beharrlich verfolgt, bis man eventuell Schiffbruch erleidet, ist das kein Dogmatismus. Das Scheitern bleibt ja die Möglichkeit.

Norbert Leser schreibt: Der Reduktionismus "überschätzt die Fähigkeiten der Wissenschaft, wenn er ihr zumutet, eine Erklärung für zwei wesentliche Faktoren, ohne die die Wirklichkeit nicht vollständig ist, liefern zu können: Das Bewusstsein und die Vernunft." Ein Naturwissenschafter kann die Fähigkeiten der Wissenschaft nicht überschätzen, er kann nur untersuchen, wie weit die Wissenschaft ihn bringt. Er weiß immer, dass der Erkenntnis Grenzen gesetzt sind, weil unsere Denkmöglichkeiten begrenzt sind. Heisenberg wiederholte die Warnung: Die Quantentheorie ist nicht eine Theorie der Materie, sondern eine Theorie unseres Wissens von der Materie.

Strasser zitiert Goethe: "Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken." Er meint, es wäre völlig witzlos, derlei Wahrheiten mit wissenschaftlichen Begriffen formulieren zu wollen. Vielleicht hat er recht. Aber er sollte denen, die versuchen zu verstehen, nicht mit abwertender Ablehnung begegnen.

Immer wieder wird auch beklagt, der Reduktionismus wolle den freien Willen abschaffen. Das Attribut "frei" scheint aus der Zeit zu stammen, in der man versucht hat, nicht mehr an den Teufel zu glauben und dem Menschen die Möglichkeit zusprach, unabhängig zu entscheiden. Damit ist aber die Entscheidung des Individuums festgelegt: durch die Gefühle, die es gegenüber der Situation hat, durch das, was es gelernt hat, und durch Versprechen, die es etwa gegeben hat. Freilich, der so denkende Naturalist kann das starke Gefühl der Freiheit, das auch er vor der Entscheidung hat, nicht erklären. Aber lassen wir Adam sein Staunen, lassen wir ihn nach Erkenntnis suchen, bis er seine Grenzen findet.

Walther Menhardt, geboren 1931, hat theoretische Physik studiert und die Filmakademie besucht. Er war Assistent Heisenbergs und in der Elektronik-Industrie tätig. Schreibt Essays und Belletristik. (Roman: "Die Gegenwart Uhlings", Projekte-Verlag, Halle, 2010.)