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Die Irrwege des Fortschritts

Von Simon Rosner

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Es gibt keine Liveübertragungen mehr, dafür bekommen wir nun gezeigt, dass Bälle, die im Netz zappeln, auch wirklich drin sind.


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Es ist schon beeindruckend, wie der technische Fortschritt läuft und läuft, nie hört es auf, und selbst die tollsten Erfindungen sind in Wirklichkeit nur kleine Etappen. Aber dann, so zwischendurch, muss man sich schon fragen, wo denn der Fortschritt da genau hinläuft.

Zum Beispiel der Fahrscheinautomat. Eine gewiss sinnvolle Idee, aber irgendwann wurde aus dem Automaten der Ticketterminal, auf dem man vermutlich auch Opernkarten erwerben kann. Was ja gerade für Touristen großartig wäre - wenn sie sich nicht ständig in den Weiten der Untermenüs verlieren würden. Es soll schon Besucher gegeben haben, die auf der Suche nach den richtigen U-Bahn-Karten ihren Wochenendtrip vor solchen Automaten verbrachten.

Es ist auch sicher nützlich, dass sich auf heutigen High-End-Thermostaten die Raumtemperatur für den 12. Jänner 2022 vorprogrammieren lässt. Wenn allerdings an einem sehr kalten Sonntagabend dieser moderne Thermostat den Durchfrorenen auf dem Display von einem internen Syntax Error berichtet, muss ja erst wieder zur Uralttechnik der Felldecke zurückgegriffen werden.

Ein anderes Beispiel ist der Computer, der völlig zu Recht die Schreibmaschine als Schreibgerät abgelöst hat. Aber dann hatte jemand eine Idee und erfand die Autoformatierung, die zuverlässig erkennt, was der Schreiber gerade nicht will. Wer nämlich "im 1. und 2. Bezirk" schreibt, will keine Liste erstellen!

Das Fernsehen hat nun auch einen Fortschritt gemacht. Er nennt sich Digital-TV. Das ist bestimmt eine technische Meisterleistung, denn da werden Daten zuerst digital zusammengepackt, dann gesendet und von Receiver und Fernseher wieder zu Bild und Ton gebastelt, alles schwer vorstellbar und irre. Doch weil nun viel mehr Daten gesendet werden können, müssen wir jetzt durch hunderte Sender zappen, bei denen wir uns wünschten, nie über deren Existenz erfahren zu haben.

Gut, HD kann schon was, die Kicker lassen sich jetzt auch problemlos anhand ihrer gestochen scharfen Tätowierungen identifizieren. Doch Digital-TV heißt auch, dass es keine Liveübertragungen mehr gibt. Es dauert bei verschiedenen Sendern und auch Fernsehern unterschiedlich lange, bis sich das Bild aufbaut, im Internet sogar einige Minuten.

Das führt dann dazu, dass der Nachbar bereits jubelt, wenn auf dem eigenen Fernseher oder am Monitor gerade ein Outeinwurf zu sehen ist. Es ist doch sehr unterhaltungsmindernd, wenn man schon weiß, was gleich passieren wird.

So fällt dann auch die Spannung schnell ab, wenn der ideal freigespielte Stürmer allein auf den Torhüter zurennt, während aus dem Fenster gegenüber eben dieser Stürmer bereits lauthals "eine Kuh" geheißen wird.

Der ORF hatte beim Auftaktmatch überhaupt ein internes Delay, wie es heißt. Der Kommentator schrie bereits "Eigentor", als die Zuschauer noch den Stanglpass eines Kroaten sahen. Dafür bekamen die Zuschauer bald danach eine weitere technische Meisterleistung geliefert: die Torlinientechnologie. Sie löste auf, dass der Ball, der zuvor im Netz zappelte, auch wirklich hinter der Linie war. Quelle surprise.

Aber live wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Dafür ist dem Fortschritt nun gelungen, was eigentlich eine Undenkbarkeit ist: Es gibt also tatsächlich mehrere Gegenwarten.