Warum direkte Demokratie auch Grautöne braucht.
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Das britische Votum für den EU-Austritt hat uns zwei Dinge vor Augen geführt: Direkte Bürgerbeteiligung via Referenda ist wirkmächtig, denn die Versprechungen der Protagonisten der "Leave"-Bewegung haben Millionen in den Glauben versetzt, komplexe Probleme seien mittels Brexit einfach zu lösen. Doch innerhalb weniger Stunden nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses mussten die Briten erkennen: Simple Lösungen für vielschichtige Probleme - das funktioniert in der Welt des Wahlkampfs, nicht aber in der Realität eines interdependenten Europa.
Das Brexit-Votum zeigt jedoch nicht nur, dass Referenda ein mächtiges Mittel zur Steuerung gesellschaftlicher Dynamiken sind. Es zeigt auch, dass die Wahl von Referenda als Mittel politischer Teilhabe destruktiv sein kann. Der Brexit hat Großbritannien gespalten, entlang sozioökonomischer und territorialer Trennlinien. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen sind nicht absehbar. Was wir jedoch wissen: Es gibt Verlierer - und fast die Hälfte der Briten zählt sich zu ihnen. Der Brexit war destruktiv, noch bevor das Ergebnis bekannt war, denn er spaltete.
Die Verknüpfung von Populismus und Referenda ist leicht zu erklären: Der Erfolg populistischer Parteien basiert auf einer vereinfachenden Logik, die die Welt in Schwarz und Weiß zeichnet und aufteilt in das "gute Volk" und die "böse Elite". Um der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen, plädieren Populisten weltweit für direkte Demokratie. Genauer: für Referenda ohne Grautöne. Für Ja-/Nein-Abstimmungen,
in denen Kompromisse nicht zur Debatte stehen.
Ist das die politische Teilhabe, die wir wollen? Kann Mitbestimmung nicht auch andere Wege gehen?
Sie kann. Nachdem Island nach einer Finanzkrise knapp einem Bankrott entgangen war, nahmen die Isländer ihr Schicksal selbst in die Hand. Per Zufallsprinzip stellte sich eine Versammlung von 950 Bürgern zusammen, die entschied, per Votum 25 Bürger zu berufen, die über vier Monate hinweg gemeinsam die Grundlagen der isländischen Verfassung neu verhandelten. Bauern und Journalisten, Juristen und Mathematiker diskutierten die Fundamente der isländischen Gesellschaft. Über soziale Medien wurden tausende Isländer in die Entscheidungsprozesse eingebunden; die Kompromissfindung und -bildung war live zu verfolgen. Abgestimmt wurde nach dem Einstimmigkeitsprinzip, denn niemand sollte überstimmt werden, niemand das Gefühl haben, überhört zu werden.
Damit steht die isländische Methode in krassem Gegensatz zu Referenda. Sie teilt nicht, sie eint. Der Prozess gemeinsamer Entscheidungsfindung sensibilisiert für die Komplexität und Mehrdimensionalität von Problemen. Er ermutigt dazu, Grautöne zu erkennen. Und er gesteht den Bürgern ein Veränderungspotenzial zu. Die isländische Methode erfordert Zeit, doch sie ist nachhaltig - denn sie erlaubt das Ausloten des bestmöglichen Kompromisses für eine gesamte Gesellschaft. Ob wir diese Form konstruktiver direkter Demokratie mit all ihren Grautönen leben können, ist keine Frage der Machbarkeit. Es ist eine Frage des politischen Willens.