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Die Jugend -"erschreckend anders"

Von Michael Schmölzer

Politik

Terrorbekämpfung. Das Schlagwort tauchte schon vor Jahrzehnten in Österreichs Medien auf, freilich in völlig anderem Zusammenhang als dieser Tage: Am 8. August des Jahres 1957 prangte in der "Wiener Zeitung" zum Thema "Wie weit der Terror der Jugendlichen bereits geht" folgende Schlagzeile: "Plattenbrüder machten wieder von sich reden - zwei Arbeiter nach einem Streit niedergeschlagen - Rock 'n' Roll bei der Augartenbrücke". Der Skandal war perfekt, die Exekutive wurde in höchste Alarmbereitschaft versetzt.


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Die haarsträubenden Ereignisse jener Nacht vom 6. auf den 7. August im Detail: "Insgesamt viermal", so die "Wiener Zeitung" "rasten in der Nacht auf gestern Funkwagenstreifen und Einsatzkommandos der Wiener Polizei durch die nächtlichen Straßen, um große Gruppen von randalierenden Jugendlichen in die Schranken zu weisen". Zuerst begann alles noch "ganz harmlos": In den Parks vor der Heil- und Pflegeanstalt Steinhof war um etwa 21 Uhr die Zusammenrottung von "etwa 15 Jugendlichen" registriert worden, die nicht näher definierten "Radau" veranstalteten und sich beim Ertönen der Polizeisirenen aus dem Staub machten. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben, denn etwa eine halbe Stunde später "sammelten sich auf dem Treppelweg entlang des Donaukanals bei der Augartenbrücke etwa 60 Burschen und Mädchen, die zu Musik von Grammophonen und Kofferradios Rock 'n' Roll tanzten". Nur ein Großeinsatz der Exekutive konnte dem schändlichen Treiben ein Ende setzen, "die Polizei erwischte fünf Burschen und zwei Mädchen, die kurz darauf im Kommissariat Leopoldstadt mit Polizeiarrest bis zu vier Tagen Dauer bedacht wurden", wie unser Blatt vermeldete.

"Wickel" um Wurlitzer

Der grausame Reigen des Unerhörten drehte sich unaufhaltsam weiter, als die Polizei kurz darauf in ein Lokal in der Hernalser Wichtlgasse gerufen wurde. Auch dort gab es Stunk der musikalischen Art zwischen etwa zwanzig Jugendlichen und fünf erwachsenen Maurern. Letztere wollten nämlich den lokaleigenen Musikautomaten, "Wurlitzer" genannt, von harter Rockmusik auf sanftere Weisen umprogrammieren. Dieses Ansinnen schlug fehl, zwei Maurer fanden sich mit eingeschlagener Nase auf dem Boden wieder, die Polizei ermittelte.

Die geschilderten Vorkommnisse waren nur ein Glied einer ganzen Kette von Aufsehen erregenden Zwischenfällen, die seit dem Frühsommer des Jahres 1956 die Wiener Öffentlichkeit in Atem hielt: Immer häufiger fühlen sich ehrbare Bürger in den traditionellen Arbeiterbezirken von Jugendlichen belästigt, die in losen Grüppchen (Platt'n) an Straßenecken herumlungern und schon durch ihr bloßes Äußeres Anlass zu Misstrauen geben. Ihr Erscheinungsbild: 14 bis 18-Jährige mit Röhrlhosen, Lederjacken, pomadiertem Haupthaar, das bis über den Kragen reichte, Mopeds. Die dazugehörigen Mädchen provozierten durch toupierte Haarpracht und Jeans. Gemeinsam war diesen zwielichtigen Gestalten die Vorliebe für den Rock 'n' Roll, einer neuartigen Musikrichtung, die Anfang der 50er Jahre in den USA geboren wurde. Weiteres Merkmal: Ihr völliges Desinteresse an den politischen Vorgängen in und um Österreich ließ sie in diesem Sinn keine gesellschaftlichen Umstürze planen. Dennoch sorgten sie für beträchtliche Aufregung.

Nicht dass es sie vorher nicht gegeben hätte, die unangepassten Jugendlichen mit provokantem Aussehen und ebensolchen Manieren. Die NS-Zeit kannte den Wiener "Schlurf", personifizierter Kontrast zur von den Nazis geforderten soldatisch-asketischen Männlichkeit. Den Oberkörper stets leicht gebeugt, versenkte er die Hände in den Taschen seiner "Schlurf-Schale": Diese bestand aus weiten, doppelreihigen Sakkos, weiten Hosen, einer grellfarbigen Krawatte, die Haare wurden mit Pomade eingefettet. Beliebte Treffpunkte waren Parks und andere öffentliche Plätze, wo man Swing-Musik hörte und das Tanzbein schwang. Auf der Hut musste man vor den HJ-Streifendiensten sein, die das un-arische Treiben gewaltsam zu unterbinden hatten. Auch die Gestapo beteiligte sich an der Verfolgung der Wiener Schlurfs, zahlreiche Jugendliche wurden in Disziplinierungsanstalten eingewiesen oder zum Reichsarbeitsdienst bzw. zur Wehrmacht eingezogen.

"Vom Veitstanz besessen"

Ein Nazi-Funktionär, der im "Altreich" Zeuge einer Halbstarken-Orgie geworden war, fasst sein Entsetzen in folgende Worte: "Der Anblick war verheerend. (...) Teils tanzten zwei Jünglinge mit einem Mädel, teils bildeten mehrere Paare einen Kreis, wobei man sich einhakte, und in dieser Weise dann herumhüpfte, mit den Händen schlug, ja sogar mit den Hinterköpfen aneinander rollte, und dann in gebückter Stellung, den Oberkörper schlaff nach unten hängend, die langen Haare wild im Gesicht, halb in den Knien, mit den Beinen herumschlenkerte."

Die feindselige Haltung gegenüber jugendlichen Abweichlern dürfte sich zumindest teilweise in die Zweite Republik "herübergerettet" haben. Am 12. Mai 1956 beschloss Wiens Polizeipräsident Josef Holaubek, dem so genannten "Halbstarken-Unwesen" ein Ende zu bereiten. Bei groß angelegten Razzien im Prater wurden 17 verdächtig wirkende Jugendliche festgenommen. Die Polizei durchkämmte danach sämtliche Kaffeehäuser, Gaststätten und Spielhallen der näheren Umgebung und nahm alle Jugendlichen, die entweder keinen Ausweis bei sich hatten, oder noch nicht achzehn Jahre alt waren, fest und brachte sie aufs nächste Kommissariat, wo sie eine Nacht im Arrest verbrachten. Zudem wurden die Beamten angewiesen, in Zukunft "Eckenstehern" und "Stufensitzern" mit der Straßenpolizeiordnung beizukommen und wegen "Verstellung des Gehsteiges" zur Verantwortung zu ziehen. Ein Zeitzeuge erinnert sich, dass diese Ankündigungen durchaus ernst gemeint waren: "Eine Ansammlung von 20 Jugendlichen in Lederjacke vor dem Schäfer-Kino auf der Mariahilfer Straße, wo Bill Haleys Kultfilm ,Rock around the clock' gespielt wurde, war bereits verdächtig und wurde aufgelöst".

"Erstickende Friedhofsruhe"

Auch nach den Hintergründen für das jugendliche Fehlverhalten wurde allerorts gefahndet. Der bekannte Wiener Psychater Hans Hoff erstellte zu diesem Behufe 1956 eine eigne Studie. Darin konstatiert er, dass die "Jugend von heute erschreckend anders" sei. Auszeichnen würde sie ein beinahe asoziales "Desinteresse am öffentlichen Kollektiv". Das "Halbstarkenwesen" führt der Wissenschafter zu einem Gutteil auf eine verhängnisvolle "Frühreife des Körpers" zurück. Die Jugend beuge sich überdies nur noch "sehr zögernd der Autorität", Schuld daran sei vor allem die "Reizüberflutung" durch die Reklame". Auch das "Bedürfnis breitester Kreise nach dem höheren Lebensstandard" lässt den Trieb übermächtig werden". Hoff weiter: "Schon in der Kleidung wollen sie anders sein als die Jugend früherer Zeiten".

Mitbürger vorgerückten Alters, die sich anno 2002 an ihre Jugend zurückerinnern, sehen die Sache freilich völlig anders: Von einer damals herrschenden "erstickenden Friedhofsruhe", ist die Rede, die Jugend sei am "pädagogischen Bild der Wiener Sängerknaben" gemessen worden. Hans Veigl geißelt die betreffende Periode in seinem Buch "Die 50-er und 60-er Jahre" sogar als "prüde" und "lustfeindlich". Der Wertekanon der Elterngeneration sei ganz von der Aufbauarbeit und einem "neobiedermeierlichen" Streben nach privatem Glück und Wohlstand dominiert worden.

Das neue Lebensgefühl, dem die Jugend der "Fifties" anhing, stieß bei den "Altvorderen" schon deshalb auf Ablehnung, da es sich auf importierte US-Kultur stützte: fremdartig, unverständlich und unglaublich provokant, Gefährdung des guten Geschmacks und der Sittlichkeit. Elvis Presley wurde von verschiedensten Printmedien mit dem wenig schmeichelhaften Attribut "epileptischer Gartenschlauch" versehen, die Obrigkeit versuchte per Gesetz den Untergang des Abendlandes abzuwenden: Beispielgebend für derartige Tendenzen ist das sogenannte "Schmutz- und Schundgesetz", bereits 1950 vom Österreichischen Parlament erlassen, mit dem unter anderem der verwerfliche Einfluss der Comic-Literatur eingedämmt werden sollte.

"Mitzi, reich mir's Messer"

Ausdruck der Entfremdung zwischen den Generationen sind die Lieder des Kabarett-Duos Qualtinger/Bronner, die den "Wilden auf seiner Maschin' " und den "G'schupften Ferdl" zum Prototypen einer fehlgeleiteten Jugend machten: Beide Figuren sind konsumistisch veranlagt und laufen irgendwelchen Idolen aus dem Kino nach, ohne wirklich zu wissen, was sie mit sich anfangen sollen: Weil ma so faaad ist . . . Dabei ist Bronners "G'schupfter Ferdl" durchaus auch gewaltbereit: In der Tanzschule Dumser in Neulerchenfeld, die er mit der "Mitzi Wastaptschek" zu Perfektionszwecken zu besuchen pflegt, liefert er aus nichtigem Anlass eine wilde Saalschlacht. Wo er kläglich unterliegt, weil er an sein Messer nicht herankommt.

Die kabarettistische Einschätzung der Wiener Halbstarken ging nicht ganz an der Realität vorbei: Hier ist vor allem der verhinderte Platten-Krieg vor dem Cafe Colosseum, Nußdorferstraße, in der Nacht vom 26. auf 27. Juli 1957 zu nennen: An nämlicher Adresse sollte die endgültige Abrechnung der Meidlinger Platte, "Hauptquartier" war das Cafe Kittner in der Bökhgasse, und der ansässigen Alsergrund-Platte über die Bühne gehen. Hintergrund für die Rachegelüste der Burschen aus dem zwölften Wiener Gemeindebezirk soll laut Pressemeldungen ein verlorenes Rock 'n' Roll Tanzturnier gewesen sein, nachprüfen lässt sich das freilich nicht mehr. Wahrscheinlicher ist, dass die Meidlinger ihr Revier verlegen und die Alsergrundler von ihrem Stammcafe vertreiben wollten. Als man in Kampfstärke von etwa hundert Mann vor dem "Colosseum" aufmarschierten, erwartete sie allerdings eine unangenehme Überraschung. Die Polizei war bereits anwesend und verhinderte die Massenkeilerei. Solche gewalttätigen Großaktionen waren allerdings mehr die Ausnahme denn die Regel.

Kleinere Bandenkämpfe unter den verschiedenen Jugendplatten waren aber an der Tagesordnung. Nicht am Stadtplan eingezeichnet existierten dutzende von klar definierten Revieren, meist einige Häuserblocks umfassend, die gegen Eindringlinge verteidigt wurden. "Das war wie im Mittelalter", charakterisiert der Taxichauffeur und Ex-"Schlurf" Hans F. seine bewegte Jugend. Expeditionen in feindliches Gebiet wurden mit Vergeltungszügen beantwortet. Dabei sei es zwar zu Keilereien gekommen, "aber ohne Schlagring und Messer - des war ned drin" so Hans F.

Kriminell im heutigen Sinn war nur ein ganz geringer Bruchteil der Jugendlichen, die sich den rigiden Verhaltensreglements der 50er zu entziehen versuchten. Schon zeitgenössische Schätzungen weisen darauf hin, dass maximal fünf Prozent der in Platten organisierten Jugendlichen in zumeist kleinere Diebstähle verwickelt wären. Worum es den meisten ging, formuliert ein Zeitzeuge folgendermaßen: "Wir wollten a amoi unter uns sein. In der engen Wohnung woar ka Platz, also simma auf die Stroßn". Was er dort mit seinen Kumpanen getan habe? "Mir san nach der Oarbeit herum'gstanden und ham' hoid a bissl Schmäh g'führt."