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Die Kapriolen des Gedächtnisses

Von Frank Ufen

Wissen

Kennen Sie das? Sie fahren gut gelaunt auf der Autobahn, es gibt weder Staus noch Stockungen, und Sie kommen mit Höchstgeschwindigkeit voran. Doch plötzlich stellen Sie entsetzt fest, dass Sie sich an nichts erinnern können, was während der letzten Kilometer um Sie herum vor sich gegangen ist. Will Ihnen manchmal der Name eines Bekannten nicht einfallen - obwohl er Ihnen auf der Zunge liegt und Sie genau wissen, aus wieviel Silben er besteht und mit welchem Buchstaben er anfängt? Passiert es Ihnen häufiger, dass Sie Gegenstände verlegen oder Verabredungen schlicht vergessen? Haben Sie oft Schwierigkeiten damit, sich an Ereignisse zu erinnern, die allenfalls einige Tage zurückliegen?


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Yo-Yo Ma ist einer der bedeutendsten Cellisten der Gegenwart. Vor einiger Zeit war er derart zerstreut, dass er sein Cello - Stradivari, immerhin 2,5 Millionen Dollar wert - im Kofferraum eines Taxis liegen ließ. Ma hatte Glück, die Polizei konnte sein Instrument rechtzeitig sicherstellen.

In den 1970er Jahren kam es in England zu einem bizarren Vorfall. Als Peter Reilly nach Hause kam, stieß er auf eine Leiche - seine Mutter war ermordet worden. Nachdem er die Polizei benachrichtigt hatte, geriet er bald unter Mordverdacht und wurde einem Lügendetektortest unterzogen, den er nicht bestand. Zunächst leugnete er die Tat, aber schließlich gelangte er zu der Überzeugung, den Mord doch begangen zu haben, und legte ein schriftliches Geständnis ab. Zwei Jahre später stellte sich heraus, dass er unter keinen Umständen der Täter gewesen sein konnte.

Nützlich für das Überleben

Über die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses wird mindestens so oft und heftig geklagt wie über schlecht laufende Geschäfte. Zweifellos sind solche Klagen nicht ganz unberechtigt. Aber bedeutet das, dass die Evolution bei der Konstruktion des menschlichen Gedächtnisses gepfuscht hat? - Ganz im Gegenteil, behauptet der amerikanische Psychologe und Neurologe Daniel Schacter. In seinen Augen gibt es für die Fehlleistungen des Gedächtnisses eine einfache evolutionstheoretische Erklärung. Sie sind nichts anderes als die Folgen und Nebenwirkungen von Eigenschaften, die nützlich und notwendig für das Überleben sind.

Manchmal funktioniert das Gedächtnis schlecht, manchmal funktioniert es aber auch zu gut - Erinnerungen an peinliche, demütigende, frustrierende oder traumatische Erlebnisse und Erfahrungen neigen nämlich hartnäckig dazu, ständig wiederzukehren, und es ist nahezu unmöglich, sie aus dem Bewusstsein zu verbannen. Nach Schacter ist es allerdings offenkundig, dass es ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf ist, emotional aufwühlende Erlebnisse und Erfahrungen möglichst genau und lange im Gedächtnis zu behalten. Denn je besser sich ein Organismus an Situationen erinnern kann, die sich in der Vergangenheit als schädlich oder lebensbedrohlich erwiesen haben, desto besser sind seine Chancen, aus Fehlern zu lernen und solchen Situationen in Zukunft auszuweichen.

Schutz vor Überlastung

Doch in den allermeisten Fällen funktioniert das Gedächtnis schlechter, als es sollte. Entweder produziert es lückenhafte, verzerrende oder falsche Erinnerungen. Oder es versperrt den Zugang zu Erinnerungen oder lässt es zu, dass sie früher oder später zerfallen.

Dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen, dass nur noch Fetzen von ihnen zurückbleiben oder dass sie spurlos verschwinden, ist eine ebenso alltägliche wie frustrierende Erfahrung. Doch auch dahinter vermutet Schacter einen Schutzmechanismus, der einen evolutionären Ursprung hat. Da das Gehirn hoffnungslos überlastet wäre, wenn es alle Daten, die es jemals gespeichert hat, aufbewahren und ständig bereithalten würde, geht es eine Art Wette ein: Informationen, die längere Zeit nicht abgerufen worden sind, bewertet es als veraltet und unnütz und sortiert sie kurzerhand aus.

Denselben Mechanismus macht Schacter dafür verantwortlich, dass es so oft misslingt, verzweifelt gesuchte Informationen abzurufen oder auf die Namen von bekannten Menschen oder Orten zu kommen. Namen haben noch dazu den Nachteil, in der Regel willkürlich zu sein, so dass sie über ihre Träger nichts oder so gut wie nichts aussagen.

Unerwünschte Blockaden

Blockaden solcher Art betrachtet Schacter allerdings nicht als die direkten Ergebnisse der natürlichen Selektion, sondern als unerwünschte Begleiterscheinungen. Dasselbe gilt seiner Auffassung nach für vier weitere typische Schwächen des Gedächtnisses: seine Suggestibilität, seine Neigung zu Fehlattributionen und Verzerrungen - und Geistesabwesenheit.

Wenn man seine Aufmerksamkeit ganz einer Aufgabe zuwendet und nebenbei Routinetätigkeiten erledigt, wird die Umgebung nur noch vage zur Kenntnis genommen - und es kann dann zu verhängnisvollen Fehlern kommen. Doch wiederum, erklärt Schacter, wäre es viel schlimmer, wenn das Gehirn unterschiedslos jedes Ereignis in all seinen Einzelheiten speichern würde. Die Folge wäre ein heilloses Daten-Chaos und das Gehirn wäre außerstande, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, Muster und Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen, zu abstrahieren, zu klassifizieren und Schlüsse zu ziehen. Das Gehirn hat jedoch einen Ausweg gefunden: Es bildet Automatismen aus, die wenig Energie erfordern, und konzentriert seine geistigen Ressourcen auf die wichtigen Angelegenheiten. Der Preis, der dafür gelegentlich zu zahlen ist, ist Geistesabwesenheit.

"Wahrheitsministerium"

In jedem Menschen, sagt Schacter, ist eine Art Orwellsches Wahrheitsministerium am Werk. Es schreibt die Erinnerungen immer wieder um, damit sie mit den aktuellen Kenntnissen, Überzeugungen, Bedürfnissen und Interessen im Einklang stehen. Das führt dann zu verzerrten Bildern der Vergangenheit: Man kennt den Ausgangs eines Vorgangs und ist davon überzeugt, schon lange vorher alles kommen gesehen zu haben. Man glaubt, schon immer so empfunden zu haben, wie man gegenwärtig empfindet, oder man glaubt im Gegenteil, früher völlig anders empfunden zu haben. Man erinnert sich an Vergangenes in einer Weise, die das Ich in einem allzu günstigen Licht erscheinen lässt. Und man destilliert aus früheren Erfahrungen Stereotype, die die Deutung der sozialen Welt steuern.

Solche verzerrenden autobiographischen Erinnerungen sind zwar alles andere als harmlos. Aber nach Schacter haben sie auch ihr Gutes: Sie machen das Leben übersichtlicher und leichter, und sie stärken das Selbstwertgefühl.

Externe Informationenzur Rekonstruktion

Das Gedächtnis hat noch zwei weitere Schwächen. Immer, wenn es Erlebtes rekonstruiert, greift es auch auf Informationen aus externen Quellen wie andere Menschen, Texte oder Bilder zurück. Sind diese Informationen jedoch irreführend oder falsch, hat es große Schwierigkeiten, das tatsächlich Erlebte vom bloß Eingebildeten zu trennen.

Schließlich kann es vorkommen, dass sich das Gedächtnis zwar auf korrekte Informationen stützt, dass es aber nicht mehr weiß, aus welchen Quellen es sie bezogen hat. Die Folge: Das Gedächtnis reproduziert reale eigene Erlebnisse, ordnet sie aber der falschen Zeit oder dem falschen Ort zu. Oder aber es hält für reale eigene Erlebnisse, was in Wahrheit aus anderen Quellen stammt.

Diese beiden Mängel des Gedächtnisses können unter anderem falsche Geständnisse, Déjà-vu-Erebnisse und Wahnvorstellungen auslösen. Doch auch das, sagt Schacter ist der Preis dafür, dass sich das Gedächtnis nicht lange mit Details aufhält und äußerst ökonomisch und effizient arbeitet.