Ein Maghreb-Trio sticht Osteuropa aus. | Etliche Zulieferer verlagern Produktion. | Nur wenige rot-weiß-rote Pioniere. | Die deutsche Heinrich Kopp GmbH, die Schalter und Stecker herstellt, hat rasch geschaltet: Sie sperrte ihre seit 1991 bestehende Produktion im tschechischen Kaplice blitzartig zu und verlagerte die Fertigung nach Tunesien. Simpler Grund: "Wir können dort billiger produzieren." | Austria in Afrika
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Der Konzern, mit Kopp Austria auch im Mühlviertel ansässig, ist kein Einzelfall: Viele Firmen, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus Kostengründen in Osteuropa niedergelassen haben, setzen jetzt auf das nordwestliche Afrika. Die Karawane hat Tunesien, Algerien und Marokko entdeckt.
Der früher kaum beachtete Markt von 80 Millionen Menschen gilt als interessanter Standort: Seit 2003 sind 50 Milliarden Euro an ausländischen Direktinvestitionen in die drei Länder geflossen, wobei Marokko die Nase vorne hat. Zuletzt war zwar speziell in Tunesien ein deutlicher Rückschlag zu verzeichnen, doch der scheint überwunden.
Im vergangenen Jahr ging es rund: Ausländische Bankinstitute wie BNP Paribas stockten lokale Beteiligungen auf. Handelsgiganten wie Carrefour eilten scharenweise nach Nordafrika. Energieriesen wie Gazprom unterzeichneten lukrative Explorationsdeals. Immobilienprofis aus aller Welt standen Schlange, um beim Bau von Hotelresorts, Shopping-Palästen und Bürokomplexen mitzumischen. Telekom-Firmen wie die französische Orange kämpften erfolgreich um Lizenzen. Schließlich sicherten sich Baukonzerne wie die österreichische Strabag fette Aufträge.
Am laufenden Band siedeln sich internationale Industriekonzerne im neuen Dorado der Niedriglöhne an: Die französische Lafarge etwa investierte in ein Zementwerk in Algerien. Der indische Stahlkonzern ArcelorMittal erweiterte ebendort seine Produktion. Renault baut eine nagelneue Fabrik im marokkanischen Tanger. Die Modefirma Benetton weitet ihre Fertigung in Tunesien zügig aus. Erst Anfang Oktober eröffnete der Hutchinson-Konzern aus Hongkong in Sousse eine Niederlassung.
Tunesien: Heuer schon 124 Newcomer
Während die Stundenlöhne in der Ukraine bei rund drei Euro und in Ungarn oder Polen bei vier bis sechs Euro liegen, machen sie in Tunesien nicht einmal zwei Euro aus. Die nordafrikanischen Länder punkten aber auch mit qualifizierten Arbeitskräften, überdurchschnittlichen Wachstumsraten und politischer Stabilität. Das zieht viele Zulieferer an, die Kabelbäume, Sitzbezüge oder Innenraumverkleidungen produzieren.
Der US-Konzern Delphi, der 2009 in Marokko sein zweites nordafrikanisches Werk eröffnete, schätzt die geringen Kosten ebenso wie die japanische Sumitomo. Der deutsche Zulieferer Kromberg & Schubert, der auch in Oberpullendorf präsent ist, erweitert gerade sein 2008 gestartetes Werk westlich von Tunis und stockt die Belegschaft, derzeit 2300 Beschäftigte, um ein Drittel auf.
Tunesien, das mit der EU über engere wirtschaftliche Kooperation verhandelt, will sich als Hochtechnologieland etablieren und für Auto- und Luftfahrtzulieferer attraktiv werden. Kürzlich begann die französische Airbus-Tochter Aerolia auf einem 20 Hektar großen Areal in El Mghira mit dem Bau eines Werks, in dem Airbus-Komponenten hergestellt werden. Dieses Industriegebiet soll als Kompetenzzentrum für Airline-Lieferanten schon bald 150 Unternehmen beherbergen.
In flächenmäßig kleinsten, aber am besten aufgestellten Maghreb-Staat sollen bis 2016 allein im Hightech-Bereich 160.000 Arbeitsplätze entstehen. Die direkten Investments ausländischer Firmen haben in den ersten acht Monaten dieses Jahres 600 Millionen Euro ausgemacht. Zum Vergleich: Im Vorjahr betrugen sie 1,6 Milliarden; 2006 war sogar das Doppelte ins Land geflossen. Tunesien, das die Krise recht gut überstand, bekam also die gebremste Investitionsneigung in Europa zu spüren - was sich neuerdings ändert.
Derzeit sind der Energiesektor und die industrielle Produktion die wichtigsten Bereiche. 124 Firmen mit ausländischer Beteiligung haben heuer eine Fertigung gestartet, 7200 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Insgesamt produzieren in Tunesien mehr als 2500 internationale Unternehmen mit nicht weniger als 270.000 Mitarbeitern. Nahezu alle Investoren kommen aus der EU, allen voran aus Frankreich, Italien und Deutschland. Während Weltkonzerne wie Unilever, Nestlé, Siemens oder Caterpillar längst präsent sind, sind bisher nur wenige rot-weiß-rote Investoren vertreten - laut der Handelsdelegierten Ulrike Straka "eine Handvoll" (siehe Kasten).
286 Milliarden Dollar für die Infrastruktur
Algerien, weltweit zweitgrößter Produzent von Flüssiggas, drittgrößter Produzent von Erdgas und elftgrößter Erdöl-Förderer, lebt von seinen Energieträgern. Diese stellen 98 Prozent der Exporteinnahmen und spülen viel Geld in die Kasse. Bis 2014 will Algerien gemäß einem Fünf-Jahres-Plan 286 Milliarden Dollar in die Infrastruktur stecken - in Eisenbahnen, die Metro in Algier, Autobahnen, Spitäler, Wasseraufbereitung und -speicher, aber auch in den Bau von einer Million Wohnungen sowie in den Agrar- und Bildungsbereich. Die ehrgeizigen Vorhaben sollen laut Präsident Abdelaziz Bouteflika, der auf soziale Marktwirtschaft schwört, ohne Auslandskredite, sondern aus eigenen Mitteln finanziert werden.
Die Devisenreserven liegen bei 150 Milliarden Dollar, die Schulden konnten auf weniger als vier Milliarden abgebaut werden. Überdies darf sich Algerien, im Vorjahr Afrikas drittgrößte Volkswirtschaft, laut Währungsfonds auf ein konstantes Wachstum von vier bis sechs Prozent einstellen. Die demokratische Volksrepublik ist zwar "kein einfacher Markt" (Straka), weil Tochterfirmen nur bis zu einem Auslandskapitalanteil von 49 Prozent möglich sind, aber sie bietet ausländischen Unternehmen viele Geschäftschancen. Gut ist in Algerien etwa der Bauriese Strabag unterwegs.
Neue Autofabrik und viele Zulieferer
Marokko, nur 14 Kilometer von der EU entfernt, ist besonders für Spanien und Frankreich ein Hoffnungsmarkt. Selbst im Krisenjahr 2009 wuchs das BIP um fünf Prozent. Marokkos Wirtschaft öffnet sich zusehends, auch das Freihandelsabkommen mit der EU und der graduelle Zollabbau für Waren und Investitionsgüter bis 2012 ziehen Firmen an. Die Regierung lockt sie mit großzügigen Förderungen, weil sie sich zigtausende Jobs verspricht.
Seit die früher dominante, exportlastige Textil- und Lederproduktion weniger wichtig wurde, konzentriert sich das Königreich auf Investoren im Automotive-Bereich und Hersteller von Flugzeug-Komponenten. Autozulieferer sind in Casablanca und Tanger versammelt, die bislang 60 Aeronautic-Spezialisten in der Region Nouasseur. Künftig soll die Sparte Elektronik eine zentrale Rolle spielen. Der Stolz der Marokkaner, die 2004 und 2006 die höchsten ausländischen Direktinvestitionen verzeichnet haben, ist freilich das Mega-Projekt von Renault-Nissan. Der Autokonzern will in seinem neuen Werk in Tanger bis zu 400.000 Fahrzeuge pro Jahr fertigen.
Der bislang boomende Immobiliensektor schwächelt derzeit und viele Tourismus-Projekte sind ins Stocken geraten. König Mohammed VI. aber will sich mit weit über 1000 Industriebetrieben mit ausländischer Beteiligung, die für ein Drittel der industriellen Produktion sorgen, nicht zufrieden geben. Seine staatliche Promotion-Agentur lockt mit Volldampf weitere Investoren an.