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Die Katastrophen absehbar machen

Von Heiner Boberski

Wirtschaft

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Wenn einer viel zum Thema Privatverschuldung erzählen kann, dann ist es Alexander A. Maly, Schuldnerberater der ersten Stunde. Er weiß, wie die Dynamik der Zinsen Menschen ruinieren kann:

"Gestern war eine Frau bei mir, die 1973 bei einem Kreditvertrag ihres Mannes mit unterschrieben hat. Der hat mit seiner Autowerkstätte Konkurs gemacht. Im Jahr 1988 hat sich die Frau scheiden lassen. Sie hatte nie ein eigenes Einkommen, aber seit damals - es waren etwa 200.000 bis 250.000 Schilling offen - zahlt diese Frau monatlich 150 bis 500 Schilling - sie kann nicht mehr - an ein Inkassobüro. Und die Bank findet einfach nichts dabei, dass die ewig zahlt. Sie lebt in ärmlichsten Verhältnissen und kriegt nur alle paar Monate die Mitteilung, wie hoch die Forderung wieder geworden ist. Mittlerweile sind wir bei weit über einer Million Schilling."

Solche Fälle sind keineswegs selten, die Gläubiger haben, so Maly, an Lösungen gar kein Interesse: "Die Frau hat versucht, über Bekannte Geld zusammen zu kratzen und das als einmalige Abschlagszahlung zu präsentieren, damit sie endlich einmal herausgelassen wird. Sie wird nicht einmal zur Bank vorgelassen. Das Inkassobüro sagt: Zu wenig, das wollen wir nicht."

Der diplomierte Sozialarbeiter Maly, Jahrgang 1955, arbeitet seit 1988 für die Schuldnerberatung der Stadt Wien und hat seine Erfahrungen jüngst in einem Buch dargelegt: "Tatort Banken - Österreich, Schuldenfalle Europas" (Verlag Map Mac, Wien 2002, ¤ 15,80). Er sieht als Hauptursache für die Ausweitung dieses Problems gerade in Österreich eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 1986, die sogenannten Drittschuldnerbestimmungen bezüglich der Lohnpfändung.

Seit damals seien Arbeitgeber als unfreiwillige und billige Inkassobüros für Gläubiger tätig: "Dadurch wurde die Verschuldung enorm angekurbelt. Eine solche gesetzliche Regelung gibt es sonst auf der ganzen Welt nicht. Das Gläubigerverhalten wurde verändert. Banken gewährten plötzlich Leuten Kredite, die sonst nie einen bekommen hätten - im Vertrauen auf die Lohnpfändung. Wird dann einmal eine Rate nicht bezahlt, wird der Kredit fällig gestellt und eingeklagt. Ab sofort werden die Raten per Lohnpfändung gezahlt - mit einem großen Unterschied: Ab Fälligstellung verlangen die Banken in der Regel um fünf Prozent mehr. Für die Banken tritt ein idealer Fall ein: Die Lohnpfändung erledigt der Arbeitgeber, und es findet keine Kapitaltilgung mehr statt. Ewiger Kredit - davon träumt eine Bank: Keine Gegenleistung mehr, sondern nur noch kassieren."

Kann die Schuldenberatung noch etwas retten? "Wir versuchen aus der unabsehbaren eine absehbare Katastrophe zu machen", erklärt Maly. Der Schrecken ohne Ende läuft im besten Fall auf einen Privatkonkurs hinaus, wie er seit 1995 möglich ist. Das damit verbundene komplizierte Verfahren birgt auch die Gefahr des Missbrauchs: Einzelne Unternehmer steuerten bewusst in einen Privatkonkurs, um Zahlungen - zum Beispiel hohe Abfertigungen an Mitarbeiter - zu umgehen. Maly erlebt freilich nicht die wenigen, die raffiniert ihre Geldkoffer in Sicherheit brachten, sondern die vielen, die verzweifelt um ihre Existenz ringen. Für sie bedeutet Privatkonkurs, dass sie sich sieben Jahre der Lohnpfändung unterwerfen, dann wird der Rest erlassen. Wo es keinen adäquaten Lohn gibt, fällt diese Lösung aus.

Alexander Maly sieht zwei Wege, das Problem zu entschärfen: "Ich kann entweder die Vergabe von Krediten strenger reglementieren, das tut zum Beispiel die Schweiz, oder ich kann mich aus der Eintreibung zurückziehen - wie die USA, wo es keine Lohnpfändung gibt. Österreich hat sich in beiden Fällen für die negativen Varianten entschieden: Banken können Kredite vergeben, wie sie wollen, und in Österreich ist die staatliche Eintreibung so gut wie nirgends sonst."

Der Schuldnerberater könnte sich vorstellen, "dass man die Drittschuldneranfrage nur noch offen lässt für Gläubiger, die nicht im offenen Wettbewerb stehen: das sind Alimente für Kinder, Versicherungen, Steuern". Maly empört der Umstand, dass derzeit Alimente keine Bevorzugung bei der Lohnpfändung haben: "Entscheidend ist, wer als erster hinrennt." Da ein Gesetz dem Unterhaltsgläubiger erlaubt, zusätzlich Geld wegzunehmen, bleibt dem Betroffenen oft nicht einmal das Existenzminimum zum Leben, man treibt so viele Männer in die Illegalität, in die Schwarzarbeit.

Maly sieht jedenfalls dringenden Handlungsbedarf für die Politik: "Von der Dynamik her, die das Problem beinhaltet, muss sich etwas tun. Jeder, der sich mit Volkswirtschaft befasst, kann nicht zuschauen, wie sich die Leute für immer Unsinnigeres immer höher verschulden."

Heiner Boberski