Hans Giffhorn vermutet hinter den Chachapoya Kelten und Karthager.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Ungefähr so dürfte es sich zugetragen haben: Im Hafen tritt Eudaf an Bomilkar heran: "Sag’, Bomilkar, den man ,den Seefahrer‘ nennt, kannst du mich und meine Sippe mal da raus skippern?" - "Hör’ ’mal, du keltischer Spinner", antwortet Bomilkar, "da draußen ist nur Wasser mit massenhaft Seeungeheuern drin." "Also", sagt Bomilkar, "mir hat man gesagt, dass Karthager weder das Meer noch Seeungeheuer fürchten. Aber das scheint nur eine Legende zu sein." Bomilkar zieht die Stirne kraus, solche Reden hört er ungern. "Na schön", sagt er, "ihr keltischen Spinner könnt an Bord kommen. Macht drei goldene Ohrgehänge für jeden Mann, zwei für jede Frau, einen Goldring pro Kind." Eudaf zahlt. Man fährt los. Einfach geradeaus. Solange Bomilkar und seine Männer bezahlt werden, ist ihnen alles recht, und Käpt’n Bomilkar ist erfahren genug umzukehren, ehe Trinkwasser und Nahrung ausgehen. Nach 14 Wochen entdeckt man Land. "Sieh einer an", sagt Bomilkar, "das hätt’ ich nicht gedacht."
Alles absurd?
Man geht an Land, findet das Klima toll, die Früchte schmecken. Bomilkar, den man nicht nur "den Seefahrer" nennt, sondern auch "den Handelskundigen", überlegt, ob das nicht eine neue Einnahmequelle sein könnte. Also spricht er sich mit Eudaf ab - die Kelten bauen eine Niederlassung, die Karthager skippern zurück und holen weitere auswanderungswillige Kelten nach.
Menschenskind - welch ein Stuss! Was ist da Heinrich Himmlers "Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe" wieder eingefallen? Oder sollte es irgendein Geschichtsumschreiber der jüngeren Zeit sein? Vielleicht aus dem Erich-von-Däniken-Kreis (der beweisen will, dass die Karthager Motorschiffe hatten, ergo über das Wissen außerirdischer Astronauten verfügten)?
Dennoch, so unglaublich es scheint. . .
Die Theorie einer Besiedelung Südamerikas durch Kelten und Karthager stammt von Hans Giffhorn. Und der ist nun wahrlich kein pan-germanischer oder pan-keltischer Spinner und ein Dänikenianer schon gar nicht. Der 1942 geborene deutsche Kulturwissenschafter lehrte Visiuelle Kommunikation an der Pädagogischen Hochschule Göttingen, seit 1981 ist er Universitätsprofessor für Kulturwissenschaften an den Universitäten Göttingen und (ab 1994) Hildesheim.
Alles dreht sich dabei um die eine Frage: Wer waren die Chachapoya?
Man weiß von ihnen, dass die etwa 500.000 Menschen zählenden Chachapoya um 1475, kurz vor Eintreffen der Spanier, von den Inka unterworfen und bis nach Cusco deportiert wurden. 1549, 17 Jahre nach Eintreffen der Spanier, war ihre Bevölkerungszahl durch Masern und Pocken auf 90.000 gesunken. Kurz darauf starben sie weitgehend aus. Sie sollen hellhäutig gewesen sein - der spanische Chronist Pedro de Cieza de León beschreibt sie als die "weißesten und schönsten Indianer Perus" (was auf ein europäisches Aussehen hindeuten, ebenso aber auch gemeint sein kann als "im Vergleich zu den anderen indigenen Völkern"). Der Name Chachapoya wurde ihnen von den Inka gegeben und bedeutet "Nebelkrieger" - ein Hinweis auf eine Herkunft aus nebeligen (europäischen) Ländern? Nebel gibt es freilich auch in den Anden. . . (Allerdings keine hellhäutige Urbevölkerung, das sei ebenso festgehalten.) Schriftliche oder schriftlich tradierte mündliche Zeugnisse der Chachapoya zu ihrer Geschichte fehlen völlig. Man weiß lediglich, dass es auf die Inka befremdlich wirkte, dass, entgegen den Sitten sämtlicher Nachbarvölker, die Frauen bei den Chachapoya eine angesehene Stellung einnahmen und sogar an politischen Verhandlungen aktiv teilnahmen.
Zu den Hinterlassenschaften der Chachapoya gehören mit Sicherheit die befestigte Stadt Kuelap, die Grabfiguren von Karajia, außerdem werden einige weitere Ausgrabungsstätten der Chachapoya-Kultur zugerechnet.
Insgesamt ist das zu wenig, um dieses Volk wirklich greifbar zu machen.
Chachapoya ohne Heimat
Alle Versuche, den Ursprung der Chachapoya in anderen Regionen Südamerikas zu lokalisieren, weist der US-amerikanische Archäologe Warren B. Church von der Columbus State University, der seit 1985 zum Thema Chachapoya forscht, zurück: Seiner Überzeugung nach gibt es keine Kulturparallelen, die eine Verortung in den genannten Regionen zuließen.
Von Churchs Widerlegung der Thesen traditioneller Lateinamerikaforschung ist es nur ein kleiner Schritt zu Giffhorns Ansatz, der schlicht lautet: Wenn man die Herkunft der Chachapoya nicht in der engeren (Peru) oder weiteren (Lateinamerika) Umgebung der Fundstätten verorten kann - wo dann?
Vielleicht braucht es da wirklich einen Wissenschafter, der indigene Kulturen zwar kennt, aber keinen fachspezifischen Tunnelblick auf sie hat, sondern auch weiß, was zur fraglichen Zeit in anderen zivilisierten Gesellschaften geschah.
So entdeckte Giffhorn erstaunliche Parallelen in der Bauweise der Chachapoya und der Kelten. So entspricht beispielsweise die Bauart der Festungsmauern Kuelaps mit der Schichtung ungefähr gleich großer Steine eher jener der Keltengebiete Spaniens als der Inka-Methode, unterschiedlich große Steine zu verzahnen.
Doch Giffhorn bleibt nicht bei einem Vergleich der Architekur stehen. Er schmiedet eine beeindruckende Kette an Indizien: Trophäenkopfkult, Steinschleudern, Schädelbohrungen, dazu DNA-Analysen heute lebender hellhaariger Einheimischer mit Chachapoya-Vorfahren bis hin zum Phänomen präkolumbianischer Tuberkulose (nach gängiger Auffassung wurde die Tuberkulose durch die Europäer eingeschleppt) stützen die Annahme des Kulturwissenschafters, die Chachapoya seien keltischer Herkunft.
Doch die Kelten waren keine bedeutenden Seefahrer - und so kommen die Karthager ins Spiel. Kelten und Karthager trafen in Spanien nach Hamilkars Einmarsch aufeinander, beide, sowohl Karthager wie Kelten, waren schlecht zu sprechen auf das römische Imperium. Die Römer nun zerstören 146 v. Chr. Karthago versklaven die Bevölkerung und entziehen jenen Karthagern in ihren Diensten stehenden Kelten, die der Sklaverei entkommen, die Existenzgrundlage.
Beim antiken Historiker Diodor nun findet sich der Hinweis, die Karthager hätten Kenntnis von einer "großen Insel" gehabt, wohin sie "als Herren der See mit ihrer ganzen Habe" fliehen könnten, sollte Karthago fallen. Kelten und Karthager könnten die Reise also gemeinsam angetreten haben.
Tatsächlich hätten die Karthager genug seemännisches Geschick gehabt, um eine Atlantiküberquerung wagen zu können. Dass, wie im "Spiegel" unlängst festgehalten wurde, die Schiffe der Karthager für eine solche Reise untauglich gewesen wären, widerspricht der seemännischen Praxis: Der Atlantik wurde immerhin bereits mit wesentlich kleineren Ruderbooten als den karthagischen Bi- und Triremen überquert, und das Argument, diese schweren Schiffe hätten einen Atlantiksturm niemals abreiten können, verfängt nur bei jenen, die glauben, jede Atlantiküberquerung sei sozusagen automatisch mit einem Sturm verbunden.
Antike Seefahrer
Überhaupt sind die Leistungen der antiken Seefahrt erstaunlich: Hiram I. von Tyros schickte 950 v. Chr. eine Flotte vom heutigen Libanon aus um Afrika und das Kap der Guten Hoffnung herum ins Goldland Punt, das man am Horn von Afrika vermutet. Der Karthager Hanno steuert 470 v. Chr. seine Schiffe an die Küste Westafrikas. Der Punier Himilkonum erreicht 520 v. Chr. die Küste Sibiriens. Der Grieche Pytheas erkundet 320 v. Chr. West- und Nordeuropa und gelangt bis Island, das er Thule nennt.
Sollten Karthager tatsächlich bis nach Südamerika gekommen sein, würde das auch manche der seltsamen Gravuren am Pedro do Inga, einem Felsen in Brasilien erklären: Zahlreiche eingeritzte Symbole sind aus keiner indigenen Tradition ableitbar, erinnern jedoch verblüffend an karthagische Schriftzeichen.
Zweifellos gehört zu einer Atlantiküberquerung mit einem Schiff der Antike viel Glück und ebenso viel Mut - sie unmöglich zu nennen und als ausschlaggebendes Gegenargument zur These Giffhorns ins Treffen zu führen, ist indessen ein ebenso kühnes Unterfangen. Wie es auch von Kühnheit, wenn nicht geradezu Tollkühnheit zeugt, eine solche These überhaupt aufzustellen, was der Gegenwind aus akademischen Reihen beweist.
Doch Giffhorn versteht seine Theorie als einen Diskussionsansatz. Sollte er falsifiziert werden, bleibt immer noch die eine große Frage: Wer waren die Chachapoya? Und woher kamen sie nun wirklich?