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Die Killer mit den Kindergesichtern

Von WZ-Korrespondent Klaus Ehringfeld

Politik

Im Norden Mexikos zieht das große Geschäft mit den Drogen die Jugend an | Perspektivlosigkeit treibt Banden junge Leute in die Arme.


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Culiacán. Noch aus dem Jenseits wirkt Rafael Tamayo bedrohlich. Die Baseball-Mütze sitzt tief in der Stirn, der Blick ist feindselig, der rechte Arm verharrt gleich neben dem leeren Pistolenfutteral. Furchtlos und aggressiv soll er in Erinnerung bleiben, deshalb hat die Familie sein Abbild lebensgroß auf ein Transparent gedruckt und vor seine letzte Ruhestätte gehängt. "Du bist jetzt unser Engel, der über uns wacht und uns beschützt", steht über dem Foto.

Was dort nicht steht, aber trotzdem jeder hier auf dem Friedhof von Culiacán weiß: Rafael stand im Sold der Drogenkartelle. Er war ein Auftragsmörder der Narcos, ein Pistolero, dessen Aufgabe es war, die Rivalen von der anderen Mafia ins Jenseits zu befördern. Einmal war der Mörder der anderen Seite schneller. Rafael Tamayo wurde 20 Jahre alt.

Von ähnlich kurzen Killer-Karrieren erzählen hier unzählige Gräber. Fotos von düster dreinblickenden Kindergesichtern sind zu sehen, manche mit dunklen Sonnenbrillen, andere mit schweren Kreuzen oder Rosenkränzen um den Hals. Einige wurden 19, andere 22, kaum einer älter als 25. "Ich musste zu früh gehen, aber ich werde Euch nie verlassen", steht neben einem Bild.

Jardines del Humaya nennt sich die Gräberstätte, Humaya-Gärten. Der friedliche Name führt in die Irre. Kaum einer der Toten hier ist einen natürlichen Tod gestorben. Der Friedhof ist die letzte Zuflucht der Narcos, nicht nur der Auftragsmörder wie Rafael Tamayo, sondern auch der Auftraggeber. Große Drogenbarone wie Arturo Beltrán Leyva und Nacho Coronel haben im Leben einander erbittert bekämpft, beide wurden von Mexikos Sicherheitskräften getötet.

Nirgendwo ist der Reichtum der Kartelle spürbarer als hier. Der Friedhof ist keine simple Gräberstätte, es ist eine Tempelstadt des Todes. Hier werden die Toten nicht einfach in der Erde versenkt, hier werden sie ausgestellt, mit Protz und Prunk, in zweistöckigen Mausoleen aus Marmor, in Krypten mit Kuppeln, in Monumenten des schlechten Geschmacks.

Das große Sterben

Totengräber und Maurer geben sich in den Jardines del Humaya die Schaufel in die Hand. Es wird begraben und erweitert, gestorben und gebaut. 40.000 Menschen hat dieser bizarre mexikanische Drogenkrieg in gut vier Jahren das Leben genommen, täglich kommen Dutzende hinzu. Besonders viele sind es hier im Bundesstaat Sinaloa im rauen Nordwesten Mexikos, wo der Kampf um Routen und Reviere für das Rauschgift besonders blutig geführt wird. In Sinaloa hat der Tod immer Konjunktur. Vor allem bei der Jugend. Wo es kaum vernünftige Jobs für Heranwachsende gibt, ist das Drogenbusiness für viele eine durchaus legitime Alternative.

Die Biografien der Drogenbosse kennt in Sinaloa jedes Kind. Es sind Geschichten von echten Aufsteigern: Aus armen Söhnen von Hanf- und Mohnbauern aus dem Hochland wurden millionenschwere Schmuggler von Heroin, Marihuana und kolumbianischem Kokain. Berühmt, berüchtigt und auch bewundert. Denn um sie ranken sich Legenden von Wohltätern, die Schulen und Krankenhäuser bauen, Stipendien vergeben und nach Naturkatastrophen schneller Hilfspakete an die Bevölkerung verteilen als der Staat. So kommt es, dass immer mehr junge Leute die Mitgliedschaft in einem Kartell als erstrebenswertes Berufs- und Lebensziel betrachten.

Zwar wissen die Jungen, dass sie vermutlich früh sterben werden, aber als Gegenleistung gibt es ein Adrenalin-getränktes Leben auf der Überholspur: Geld, schnelle Autos, schöne Frauen - und vor allem eine Identität und ein Zugehörigkeitsgefühl. "Lieber fünf Jahre König als 45 Jahre Ochse", lautet ein mexikanisches Sprichwort, das unzähligen Jugendlichen zum Lebensmotto geworden ist.

Wie sich diese Könige verhalten, kann man jedes Wochenende in Culiacán sehen. Auf dem Boulevard Sinaloa verabreden sich die "Narco-Juniors" in ihren Sportwagen zu Wettrennen. Die Söhne und Neffen der kleinen und großen Bosse bringen dann Corvettes, Porsches oder Ferraris an den Start und jagen mit dreistelliger Tachoanzeige durch Wohngebiet und Ausgehviertel. An ihrer Seite sitzen die "Narco-Barbies", Mädchen, die sich früh einen Jungen aus dem Milieu gesucht haben. Man erkennt sie an der teuren Kleidung, den glatten Haaren bis zum Po und den Brustvergrößerungen schon im Teenager-Alter.

Tödliche Konzerte

Gemeinsam besuchen sie Konzerte von Moritaten-Sängern, die in ihren "Narco-Corridos" das Hohelied auf die Drogenbosse singen. So wie etwa Gerardo Ortíz, erst 20 Jahre alt, aber schon einer der berühmtesten Narco-Sänger. Zu Ortíz’ Balladen grooven Tausende in seinen Konzerten. Mitunter enden diese Auftritte allerdings tödlich. Anfang März sprengte ein bewaffnetes Kommando die After-Party eines Ortíz-Konzerts und erschoss fünf junge Leute. Wieder Arbeit für Totengräber und Maurer in den Humaya-Gärten.

Vielleicht bekommen sie dann so eine Gruft wie Rafael Tamayo, ein viereckiges kleines Gebäude mit roten gedrechselten Säulen. Durch die Scheiben sieht man Bier- und Whiskeyflaschen. In Mexiko feiert man mit seinen Angehörigen auch über den Tod hinaus. Besonders hier im Norden, wo Sterben Alltag ist. Wer im Diesseits nicht viel zu lachen hatte, der soll wenigstens im Jenseits gut unterhalten werden.