Der Gipfel über Missbrauch und Kinderschutz war professionell und selbstkritisch.
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Wien. Als katholischer Priester kenne ich das Denken, das Gehabe, die Verhaltensweisen von Klerikern zur Genüge. Ausgelöst durch ihre tiefe Schuld des Missbrauchs von Kindern, Frauen und Schutzbefohlenen sowie deren Vertuschung, hat die Kirche aber nun mit Papst Franziskus zu einer neuen Art des Miteinanders und Füreinanders gefunden.
Der von Papst Franziskus einberufene Gipfel über Missbrauch und Kinderschutz hat sich professionell und selbstkritisch dem Thema gewidmet. Dabei waren alle gemeinsamen Sitzungen live zu verfolgen. Auch das eine neue transparente, ehrliche Art des ebenbürtigen Umgangs. Frauen, Bischöfe, die vor dem Papst und seinen Kardinälen diese kritisieren, hinterfragen, Forderungen an die Kirche stellen - ein wirkliches Novum. Die Aura der Unantastbarkeit, der Unnahbarkeit ist vorbei und dahinter kann und will die Kirche auch nicht mehr zurück.
Vor Ort spüren wir diesen neuen Stil, dieses Anrecht auf Transparenz und Gleichheit. Als ich vor 20 Jahren meinen Heimatbischof in Deutschland besuchen wollte, da teilte mir sein Büro mit, dass es für einen gewöhnlichen Priester nicht üblich sei, den Bischof zu besuchen. Was für ein Zusammenbruch einer fürstbischöflichen Zeit! Gott sei Dank! Auch für die Kirche gilt: Die Monarchie ist vorbei.
Ich bin zuversichtlich. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit können wir uns wieder unserem "Kerngeschäft" zuwenden, wenn es mir erlaubt sei, so salopp zu formulieren. Auch Kirchenkritikerinnen und Kirchenkritiker müssen eingestehen, dass in den Pfarren unseres Landes ein hohes und höchstes Engagement zum Wohle der Allgemeinheit geschieht. Dass, von christlichem Anspruch angetrieben, tausende Menschen Heilendes tun und empfangen.
Es bleibt die Aufgabe, die schweren Sünden und deren Folgen zu tragen. Die Sätze von Franziskus: "Opfer haben in jeder Hinsicht Vorrang" und: "Wir wollen, dass die Kirche für Kinder absolut sicher ist" sind keine Worthülsen, sondern echtes Bekenntnis. Davon bin ich überzeugt, und daher habe ich nachfolgenden Brief an meine Pfarrgemeinde geschrieben (Auszug):
Es war ein katholisches Internat, in dem ich vom 10. bis zum 18. Lebensjahr meine Gymnasialzeit (1973 bis 1981) verbrachte. Wir waren 250 Burschen, die von drei Priestern beaufsichtigt wurden. Diese waren das ganze erzieherische Personal. Die Priester hatten keine pädagogische oder psychologische Ausbildung. Somit war klar, dass es im Internat nicht um Erziehung und Begleitung gehen konnte, sondern mehr um einen Aufbewahrungsort während der Schulzeit.
Die Priester waren bemüht, aber sie konnten die geballte Energie von 250 Kindern und Jugendlichen nur in einem System des Gehorsams und einer "schwarzen Pädagogik" (das heißt, wer nicht gehorcht, wird bestraft) bändigen. Aus meinem bäuerlich geprägten Heimatort im bayrischen Wald kannte ich die Erziehungsmethode von Zucht und Ordnung gegenüber Kindern und Frauen. Insbesondere außerhalb kirchlicher Einrichtungen. Überall. Daher war ich selber nicht überrascht, dass es im Internat ebenso war. Nichtsdestotrotz hatten wir als Jugendliche von einer kirchlichen Einrichtung einen anderen Stil erwartet; einen, der sich durch einen christlichen Geist abhebt. So kam es, dass viele meiner Mitschüler das Internat mit großer Enttäuschung verließen.
Wenn wir uns heute nach Jahrzehnten wieder treffen und zurückblicken, dann ist dieser Eindruck gleich geblieben. Es war auch klar, dass in einem solch geschlossenen System kranke Personen große Chancen hatten, ihren Neigungen im Nebel der Abhängigkeit nachzugehen. Solche Mechanismen waren zwar außerhalb des kirchlichen Internates ebenso zu beobachten: bei uns im Dorf, im staatlichen Gymnasium, in das wir gingen, in Vereinen, zu denen wir gehörten; aber im kirchlichen Raum hatten wir etwas anderes erwartet. Das ist der große Schmerz.
Gott sei Dank habe ich persönlich nie - außer den erwähnten körperlichen Strafen - eine schlimme Misshandlung erlebt. Deswegen wohl bin ich Priester in dieser so schwachen Kirche geworden. Ich habe nie an ihr insgesamt gezweifelt, sehr wohl aber an ihren Sünden. Berufen und gerufen fühlte ich mich durch die großartigen Beispiele eines Johannes Don Bosco, einer Mutter Teresa, von Adolf Kolping oder auch Oscar Romero. Durch sie habe ich die Geschichte der Kirche studiert, die Veränderung der Welt durch den christlichen Glauben angestrebt und auch den Ehrgeiz entwickelt, vieles besser zu machen.
Je schmerzhafter ich die Schwächen der Kirche und ihre dunklen Seiten wahrnahm, desto lauter vernahm ich den Ruf, an einer Veränderung mit zu wirken. Es wurde mir möglich, viel zu unternehmen. Vor, während und nach dem Studium bin ich oft gereist und habe an allerhand Projekten mitgearbeitet. Vieler Not in der Welt bin ich so persönlich begegnet: dem Suff der Verzweiflung in Obdachlosenheimen, der Dämonie der Drogen bei Jugendlichen, dem Scheitern der Gefängnisinsassen. Ich durfte in Rumänien die Straßenkinder, in Kenia die an Aids Sterbenden, im Iran die Leprakranken und in Texas die Gefängniscamps der Flüchtlinge besuchen. Bis heute treibt mich diese Not an und um. In mancher Nacht schrecke ich auf - von den Bildern getrieben - und ich spüre, dass ich noch mehr dagegen tun könnte.
Angesichts dieser großen Ziele habe ich manches in der Kirche nie ganz ernst genommen. So kam es mir zum Beispiel lächerlich vor, dass noch vor 20 Jahren diskutiert wurde, ob Mädchen als Ministrantinnen erlaubt seien. Dieses und manch anderer Streit um ernstere Themen waren für mich einfach das normale Ringen um eine moderne Entwicklung. Da ich sieben Ordensschwestern in meiner Familie habe, konnte ich vielfach erkennen, wie die Hierarchiestrukturen drückend und lebensstörend waren. Ich empfand das als überholt und war überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich ein "normaler" Zustand einfindet. Ähnlich, als ich als Student öfters die DDR besuchte und mir klar war, dass dieses System zusammenbrechen muss.
Schockiert war ich im vergangenen Jahrzehnt, als das Ausmaß der Missbrauchsfälle zu Tage kam. Diese Brutalität und dazu die Falschheit des Vertuschens sind fürchterlich. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie in so perverser Weise Kinder und Jugendliche missbraucht wurden. Dass so etwas jahrelang in kirchlichen Einrichtungen möglich war, ging über meine Vorstellungskraft. In den zwei Jahren, als ich in Wien bei P. Georg Sporschill SJ in Obdachlosenheimen wohnte und arbeitete, habe ich viele Gefängnisbesuche gemacht; Einbrecher, Mörder, auch Vergewaltiger und Kinderschänder besucht. Nach deren Entlassung war ich an der Resozialisierung vieler beteiligt. Die kriminelle Welt ist mir also sehr vertraut.
Ich vergesse nie den Leitspruch eines ehemaligen Gefangenen: "Alles ist vergänglich, auch lebenslänglich." Er hat tatsächlich die lebenslängliche Gefängnisstrafe (insgesamt dann 21 Jahre) abgesessen, weil er seine Frau erschlagen hat. Nach vielen Jahren auf der Straße hat er dann ein ganz würdiges Leben im Obdachlosenheim gefunden. Ich habe ihn sogar zu meiner Priesterweihe und Primiz mit in meine Heimat genommen. Dennoch, dass dieses Ausmaß krimineller und krankhafter Energie so lange innerhalb der Kirche existierte, ist nicht entschuldbar und sehr schwer erklärbar.
Verständlich der große Verlust an Vertrauen. Verständlich die Abwehrreaktion vieler Menschen. Das habe ich im Jahr 2010, als die österreichischen Missbrauchsfälle in den katholischen Heimen aufkamen, bei jedem Besuch in unserem Pfarrkindergarten gespürt. "Bist du auch einer, der für unsere Kinder gefährlich ist; der etwas vertuscht, der missbraucht, wenn keiner hinschaut?" - so meinte ich die Gedanken mancher Eltern zu hören.
Die Kirche steht an einer Zeitenwende. Es kommt mir vor wie im Jahr 1918, als die Monarchien in Europa zusammenbrachen. Die Staatsform der Demokratie, der Mitsprache, des Frauenwahlrechtes, der Transparenz, der Meinungsfreiheit war umstritten. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass dies funktioniert; und es hat auch lange gedauert, bis sich das neue Denken in der Gesellschaft etabliert hat. Mehr oder weniger hat das noch einmal fünfzig Jahre gedauert.
Dieser Umbruch steht in der Kirche an. All das, was im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) schon gedanklich neu formuliert wurde, beginnt sich jetzt auf die Strukturen auszuwirken. Dabei denke ich auch an ein Wort des Propheten Jesaja: "Seht hin; ich mache etwas Neues; schon keimt es auf. Seht ihr es nicht? Ich bahne einen Weg durch die Wüste und lasse Flüsse in der Einöde entstehen." Und dann heißt es weiter: "Deine Priester und Propheten sind mir untreu geworden. Deshalb habe ich eure geistlichen Führer ihres priesterlichen Amtes enthoben, Jakob der Vernichtung ausgeliefert und Israel dem Spott" (Jesaja 43, 19.28).
Unser Auftrag ist klar: persönliche Umkehr und Verkündigung des Evangeliums Jesu. Das Glaubensbekenntnis hat sich bewährt. Beides gilt es besser zu verstehen, umzusetzen, sich einzuverleiben. Dazu braucht es die Gemeinschaft. Weil Gottes Geist wirkt, glauben wir an die gute Veränderung: "Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist" (Johannes 3,8).
Es ist meine feste Überzeugung, dass wir gut unterwegs sind in der Gemeinschaft der Kirche; dass Neues angebrochen ist. Die nächsten Jahre werden dennoch stürmisch werden.
Zum Autor
Martin Rupprecht ist Pfarrer in der Pfarre Hildegard Burjan in Wien. Der
gebürtige Oberpfälzer ist auch Dechant des 15. Bezirkes.