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Die Kirche reicht nur zögernd den kleinen Finger

Von Heiner Boberski

Analysen

Just das offizielle Vatikan-Organ "LOsservatore Romano" stahl am Wochenende den neu ernannten Kardinälen die Show - mit Auszügen aus dem diese Woche erscheinenden Interview-Buch "Licht der Welt: Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit", für das der deutsche Journalist Peter Seewald Benedikt XVI. interviewen durfte. Seit jeher stürzt sich die Medienwelt gierig auf Papst-Zitate zum Thema Kondome. Deuten diese gar, wie in diesem Fall, eine Wende in der katholischen Lehre an, so ist die Aufregung natürlich umso größer. Aber ist diese Wende Realität oder nur Wunschdenken?


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Der Papst wiederholt auch hier seine bekannte Position, für die er bereits viel Kritik einstecken musste, dass Kondome "natürlich nicht als wirkliche und moralische Lösung" anzusehen seien. Allerdings räumt er nun ein, in "begründeten Einzelfällen", etwa im Fall von Prostituierten, könne der Einsatz von Kondomen, um die Ansteckungsgefahr zu verringern, "ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität".

Dabei überrascht, dass Benedikt die aus Sicht der Kirche verwerfliche Prostitution als Beispiel heranzieht. Für einen anderen, logischeren Fall, den einer Ehe, in der ein Ehepartner - womöglich durch eine Bluttransfusion und nicht durch einen Seitensprung - HIV-positiv ist, hat der afrikanische Kardinal Peter K. Appiah Turkson, Generalrelator der afrikanischen Bischofssynode 2009, den Kondomgebrauch empfohlen. Auch andere Kardinäle und Bischöfe sehen im Fall einer HIV-Infektion den Gebrauch von Kondomen als das "geringere Übel" an.

Wenn Benedikt XVI. schon zu seinem Buch "Jesus von Nazareth" ausdrücklich erklärt hat, es handle sich um keine lehramtliche Äußerung, so gilt das umso mehr für seine Antworten in einem Interview-Buch. Dass er sich der Brisanz seiner Aussagen bewusst war, bezweifelt freilich kaum jemand. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass nun doch bald jenes offizielle Dokument zur Kondome-Problematik, das der damalige vatikanische Gesundheitsminister, der mexikanische Kurienkardinal Javier Lozano Barragan, schon im April 2006 angekündigt hatte, veröffentlicht wird.

Wie weit sich die Menschheit, insbesondere die katholische, in Sexualfragen überhaupt noch an die Richtlinien aus Rom hält, ist fraglich. Barragan hatte seinerzeit auf eine kirchliche Antwort auf die anstehenden Fragen gedrungen, denn "keine Antwort der Kirche könnte als Billigung sexueller Freiheit ausgelegt werden".

Wenden finden in der römisch-katholischen Kirche nicht von heute auf morgen statt und werden (etwa in der Frage der Meinungs- und Gewissensfreiheit, die Mitte des 19. Jahrhunderts in päpstlichen Lehrschreiben noch des Teufels waren, im Zweiten Vatikanischen Konzil aber zu Ehren kamen), auf Raten und möglichst unauffällig vollzogen. Die Kirche hat auch - oft nicht unbegründet - die Sorge, das Hinhalten des kleinen Fingers -etwa Ausnahmen von der Lehre in "begründeten Einzelfällen" - werde sofort als Reichen der ganzen Hand - als Abrücken von sämtlichen Geboten in einer Frage -interpretiert. Also hält sie auch diesmal nur sehr zögernd den kleinen Finger hin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.