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Die kleinen Despoten

Von Elisa Gregor

Reflexionen
Wer weiß schon, wie man richtig erzieht?
© Corbis

Heutzutage ist es nicht einfach, Kinder großzuziehen. Wir haben Angst davor, in unseren Kinderzimmern "Bonsai-Terroristen" | heranzuzüchten. Viele Erziehungsratgeber | wollen uns davor bewahren und uns den rechten Weg weisen. Haben wir vor lauter guten Ratschlägen das Erziehen verlernt?


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Die Freunde sind rund um den Tisch versammelt, essen, trinken und diskutieren. Auch Kerstin ist dabei, und während sie interessiert zuhört, lässt sie es sich hörbar schmecken. Es ist schon ziemlich spät, als Kerstin plötzlich beginnt, kleine Brotkugeln über den Tisch zu schleudern. Was soll denn das, bitte hör auf damit, rufen die anderen. Kerstin denkt gar nicht daran. Kerstin ist drei Jahre alt. "Willst Du nicht", startet ihr Vater vorsichtig fragend, "ins Bett gehen?". Die Antwort ist ein unmissverständliches Nein, meint aber: Los, erzieht mich, wenn ihr könnt!

Sofort kommt es zu einer lebhaften Debatte der Anwesenden, in der Kerstins Erziehung im Mittelpunkt steht. So könne man, meint der Vater eines Zwölfjährigen zu Kerstins leicht genervten Eltern, seinen Sprössling nicht auf das Leben vorbereiten. Da müsse man schon durchgreifen. Mehr Strenge, Disziplin und Grenzen seinen wichtig, sonst züchte man, wie der "Stern" kürzlich schrieb, "Bonsai-Terroristen". Andere argumentieren für mehr Geduld und Gelassenheit, ohne die eine erfolgreiche Erziehung nicht funktionieren könne. Jedenfalls werden Kerstins Erziehungsberechtigte mit guten Ratschlägen zu geschüttet. "Eines wissen alle Eltern auf der Welt", meinte die Schweizer Kindheitsforscherin Alice Miller einmal weise, "wie die Kinder anderer Leute erzogen werden sollten."

Und wie erzieht man die eigenen? Elternschaft wird heute als schwierige Aufgabe mit hohen Erwartungen erlebt. Früher war klar, wie Kinder erzogen werden sollen - heute existiert das so nicht mehr. Moderne Eltern haben jede Menge Selbstzweifel, hinterfragen ständig, wollen alles richtig machen und setzen sich selbst unter Druck. Da wundert es nicht, wenn bei so viel Hirnarbeit das simple Bauchgefühl auf der Strecke bleibt. Oft entstehen Probleme auch erst durch den verzweifelten Versuch, alles richtig zu machen. Eltern überschütten ihr Kind mit Aufmerksamkeit und Geschenken, weil sie es zu ihrem einzigen Lebensmittelpunkt machen. Diese Eltern projizieren all ihre Erwartungen und ihren Anspruch an das eigene Glück auf das Kind.

Das aber, sagen Psychologen, tut Kindern gar nicht gut. Sie seien dann so auf sich selbst fixiert, dass sie später Schwierigkeiten im Umgang mit anderen hätten. Verwöhnte kleine Prinzen und Prinzessinnen, die Lehrer aber auch Eltern durchaus an den Rand des Wahnsinns treiben können. Als Gegenrezept empfiehlt der bekannte deutsche Erziehungswissenschafter Wolfgang Bergmann, dem Kind nicht mehr die alleinige Aufmerksamkeit zu widmen. Eltern sollten sich stattdessen um ihre Beziehung als Paar kümmern.

Das scheint ein kluger Rat zu sein. Nur: Wie vermeidet man die Mini-Anarchisten im Kinderzimmer? Wie soll man heutzutage erziehen? Wo sind die Vorbilder, an denen man sich orientieren kann? Was brauchen Kinder und Jugendliche, um zu glücklichen, selbstbewussten Erwachsenen zu werden? Die heutige Kleinfamilie lebt relativ isoliert, zusätzlich gibt es andere Lebensformen wie Alleinerzieher und Patchwork-Familien. Im Vergleich zu früher ist heute vieles auch individueller geworden. Wo früher die Diskussion zu Ende war, fängt sie heute erst an. Der Begriff antiautoritäre Erziehung ist längst von der emanzipatorischen Erziehung abgelöst worden. Das Verhältnis Eltern-Kind ist häufig nicht mehr das klassische vom Erzieher zum Erziehenden, sondern es findet schon früh auf gleicher Augenhöhe statt. Man fragt nach den Bedürfnissen und den Interessen, wobei Kinder auch mit Entscheidungen überfordert werden, die sie gar nicht treffen können.

All das heizt die öffentlichen Erziehungsdebatten kräftig an und sorgt für heftige Kontroversen. Es ist ein ziemlich stürmischer Schlagabtausch, den sich vor allem die deutschen Experten liefern: Der deutsche Kinderpsychiater Michael Winterhoff erklärt uns "Warum unsere Kinder Tyrannen werden", während der ehemalige Schulleiter des Elite-Internats Schloss Salem Bernhard Bueb ein "Lob der Disziplin" verkündet. Erziehungswissenschafter Wolfgang Bergmann hingegen will davon nichts hören und fordert in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" glatt "Zur Hölle mit der Disziplin!". Also was jetzt? Der kleine Haustyrann, erklären Fachleute, habe immer dann Hochkonjunktur, wenn die Zeiten unsicher seien. Da sei so eine diffuse Sorge, dass das eigene Kind durch das Verwöhntwerden nicht selbstständig geworden sei und sich nicht durchsetzen könne. Dann werde das Bild vom kleinen Tyrannen herbeigezaubert und Ratschläge erteilt, das Kind früh abzuhärten und die Bedürfnisse, die es durch sein Weinen äußert, zu unterdrücken.

Ja, ja, der kleine Diktator. Das ist ein wahrlich unsympathischer Zeitgenosse: egoistisch, unselbstständig, herrschsüchtig, faul und zu allem Überdruss noch schadenfroh: Nichts bereitet ihm nämlich mehr Freude, als seine Eltern zu quälen. Kurz: Der kleine Despot ist der absolute Albtraum. Was eben so herauskommt, wenn man als Mutter oder Vater total versagt hat. Und genau deshalb sitzt die Angst vor ihm so tief. Wer will schon daran schuld sein, dass aus einem unschuldigen Säugling ein gewissenloses egozentrisches Monstrum wird?

Um das zu vermeiden, empfiehlt der ehemalige Elite-Internatsleiter Bueb ein hartes pädagogisches Konzept. Seiner Meinung nach sollten Kinder ab dem dritten Lebensmonat tagsüber im Rahmen einer verpflichtenden Gemeinschaftserziehung ihren "überbetreuenden Müttern entzogen werden, die es viel zu gut meinen und die Kinder zu lauter Egoisten erziehen." Denn ohne Gemeinschaft mit anderen Kindern erlebten sie "keine Eifersucht, keinen Neid, sie müssen nicht teilen, sie erfahren keine Ungerechtigkeit, deshalb bleibt auch Gerechtigkeit für sie ein Fremdwort", sagte er dem "Spiegel".

Thomas Winterhoff vertritt die Ansicht, wir würden unsere Kinder zu oft als kleine Erwachsene sehen. Wir zeigten ihnen keine Grenzen auf und verhinderten so, dass sie sich gesund entwickeln. Die kindliche Psyche, sagt er, brauche Regeln. Da muss ich ihm Recht geben. "Man kann das Wachstum eines Pflänzchens nicht beschleunigen", sagt ein schönes japanisches Sprichwort, "indem man an ihm zieht".

Aber wo setze ich Grenzen? Was ist denn so falsch an einer Erziehung zu Ordnung, Disziplin, Sauberkeit? Wie vermeidet man eine Vergewaltigung junger Seelen? Wie viel Nein muss sein?

Viele Neins, die ohne emotionale Beteiligung ausgesprochen werden, seien für Babys und Kleinkinder nur Geplapper, sagt der Neurobiologe Gerald Hüther. Also doch besser gut brüllen? Wer seinen Ärger bei jedem Verbot ungefiltert herauslasse, erreiche durchaus einen Lerneffekt. Aber das sei eher Dressur, Konditionierung durch Angst. Wer will dressierte Dreikäsehochs? Professor Hüther bleibt dabei: Verbote, sparsam eingesetzt, seien das Beste.

Ein anderer Rat zur Kindererziehung lautet: Zuwendung einerseits, Grenzen setzen andererseits. "Gute Autorität" nennt Erziehungswissenschafter Bergmann dieses Konzept. Er versucht, auf die Lebenswirklichkeit von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Erziehern in einer von Medien geprägten Welt einzugehen. Der Erziehungswissenschafter versteht "gute Autorität" als Halt und Orientierung für die modernen Kinder. Und ihre Eltern. Denn der britische Pädagoge Alexander Sutherland Neill erklärte schon vor vielen Jahren: "Es gibt kein problematisches Kind, es gibt nur problematische Eltern."

Gute Autorität

Wir recht er doch hat, aber es ist auch nicht immer einfach, als "gute Autorität" aufzutreten. Wie oft kommt es vor, dass nach einem langen Tag die Kinder anstrengend sind und man selbst völlig erledigt. Und dann, beim Abendessen, springen sie mit dem Butterbrot in der Hand vom Tisch auf, um noch schnell etwas in ihren Zimmern zu suchen. Obwohl sie genau wissen, dass beim Essen alle sitzen bleiben müssen. Soll man jetzt noch eine Erziehungsdebatte beginnen?

Dennoch scheint sich etwas deutlich abzuzeichnen. Kinder verlangen, wogegen der Zeitgeist tobt: Grenzen, Zuneigung und die Behandlung als Kind und nicht als kleiner Erwachsener. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Es bedeutet in erster Linie, sich Zeit zu nehmen, mit dem Kind zu diskutieren und in Kauf zu nehmen, dass man als uncooler Bösewicht gilt. Wie oft habe ich mich selbst dabei ertappt, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, wenn ich meinen Töchtern strikte Grenzen gesetzt habe. Es ist schöner zu kuscheln als Konflikte auszuhalten. Und es stimmt wahrscheinlich, was Jean Anouilh einmal gesagt hat. "Kinder", meinte der französische Schriftsteller, "müssen die Dummheiten der Erwachsenen ertragen, bis sie groß genug sind, sie selbst zu machen."

Doch trotz aller Umwälzungen des 21. Jahrhunderts würden Kinder vermutlich am liebsten in Bullerbü leben. Das von Astrid Lindgren in ihrem Weltbestseller geschaffene Bullerbü liegt da, wo es Lasse, Bosse und Lisa, Britta und Inga, Ole und Kerstin gibt, mit stabilen Elternpaaren, in einer Atmosphäre mit ziemlich viel Gerechtigkeit und ziemlich viel Gleichheit. In dieser schwedischen Idylle kann man sich auf das konzentrieren, was Kinder auf der ganzen Welt am liebsten tun: auf das Spielen. Das wird nur manchmal unterbrochen, wenn man zum Essen nach Hause oder zur Schule gehen muss.

Eine meiner Lieblingsstellen des Buches ist herzerwärmend. Vielleicht, weil im Zusammenhang mit Kindern so viel mit dem Kopf anstatt mit dem Herzen entschieden wird. Als Lasse zur Schule geht und bei der Einschulung noch nicht still sitzen kann, wird er nicht zum Therapeuten geschickt, sondern die Lehrerin sagt: "Lasse, geh spielen. Komm nächstes Jahr wieder."