Zum Hauptinhalt springen

Die Klimakrise trifft vor allem die Allerschwächsten

Von Jan Michael Marchart

Politik

Bei der Hitzekatastrophe in Frankreich 2003 starben 15.000 Menschen. Was sich aus dem Desaster heute lernen lässt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Es war der August im Jahr 2003. Frankreich stand vor einer riesigen Tragödie des heimischen Gesundheitssystems und wurde sich der Tragweite erst bewusst, als es längst zu spät war. Menschen brachen auf den Straßen von Paris leblos zusammen. Krankenhäuser platzten aus allen Nähten. Patienten kamen bei der Einlieferung schon so schwach an, dass jegliche ärztliche Versorgung nicht mehr ausreichte. Arztpraxen waren nur notdürftig besetzt, weil viele Ärzte auf Urlaub waren. Selbst in Pflege- und Altersheimen gab es Todesfälle.

"Im August, das weiß jeder Franzose, hat die Nation fast vollständig geschlossen", sagte der frühere Premierminister Jean-Pierre Raffarin. "Wer krank und hilfsbedürftig wird, muss stundenlang auf Sanitäter warten."

Mit katastrophalen Folgen. Tagelang überstieg Frankreich in jenem August die 40-Grad-Marke. In den zwei heißesten Wochen starben 15.000 Menschen. Die Bestattungsunternehmen kamen mit den Beerdigungen nicht mehr nach und holten Leichen erst Tage später aus den Wohnungen ab.

Heuer wurde Ende Juni im Süden Frankreichs erstmals die Rekordtemperatur von mehr als 45 Grad gemessen. Paris lag an manchen Tagen nur ein paar Grad darunter. In einigen französischen Departments wurde Alarmstufe Rot ausgerufen. Eines ist klar - damals wie heute: Die Klimakrise gefährdet die Allerschwächsten in der Gesellschaft. Der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien spricht von einer "Umweltungerechtigkeit".

Die absolute Mehrheit der Hitzetoten in Frankreich 2003 war über 75 Jahre alt. Viele davon waren alleine, wurden zu wenig betreut. Sie gerieten auch, wie Raffarin es beschrieb, durch damals urlaubende Familienmitglieder "in lebensgefährliche Not".

Der soziale Status und seine Auswirkungen

Im vergangenen Jahr gab es laut Hitzemonitoring in Österreich 766 Hitzetote, zitiert Hutter. Das sind deutlich mehr Menschen, als hierzulande im Verkehr sterben. Jene fünf Personen, die in der heurigen Juni-Hitzewelle in Europa ums Leben kamen, starben akut an einem Hitzschlag. Wer aber nicht direkt an einem Hitzschlag gestorben ist, fällt in eine andere statistische Kategorie. Die Biografien der fünf Toten zeichnen aber ein eindeutiges Bild. Unter ihnen war ein Dachdecker aus Frankreich, der bei 35 Grad im Schatten bei der Arbeit einen tödlichen Schwächeanfall erlitt. In Italien starben ein 60-jähriger Gerüstbauer, der bereits tags zuvor bei der Arbeit zusammengebrochen war, sowie ein 72-jähriger Obdachloser. In Spanien starben ein junger Erntehelfer und ein 93 Jahre alter Mann.

"Die Klimakrise trifft die ökonomisch und gesundheitlich benachteiligten Gruppen", sagt Hutter. Es sei ein Unterschied, ob man in einem klimatisierten Büro darüber streite, ob es 24 oder 25 Grad habe, oder man in einer Druckerei mit schlechter Belüftung arbeite und Maschine und Arbeit körperliche Hitze produzieren. Ältere und Säuglinge seien insgesamt höher gefährdet. Ebenso Menschen, die beispielsweise Infektionskrankheiten haben. "Es trifft dich mehr, wenn du ohnehin gesundheitlich vorbelastet bist." Die Hitzewelle ist auch für jene gefährlicher, die in schlechten Wohnverhältnissen leben. "Wenn man in Hitzeinseln in ungedämmten, überhitzten Gebäuden wohnt und man noch dazu viel Verkehr vor der Haustüre hat, dann ist man klar benachteiligt gegenüber jenen, die am grünen Stadtrand abends die merklich kühleren Temperaturen am Balkon genießen", sagt Hutter. Zwischen Stadt und Umland gebe es in Österreich laut dem Umweltmediziner einen Temperaturunterschied von etwa elf Grad. Wie gesundheitliche Versorgung am Land gerade für ältere Menschen nicht zwingend besser sein muss. Es fehlen Landärzte und Enkel und Nichten zieht es eher in die Städte.

Oft reicht schon das Anklopfen beim Nachbarn

Der soziale Status spiele in der Klimakrise laut Hutter eine sehr bedeutende Rolle, weil dieser häufig mit sozialer Isolation einhergehe. Manche würden es mental nicht schaffen, rauszugehen. Andere, vor allem ältere Menschen, seien vielleicht nicht mobil genug, um bei tagelangen Hitzeperioden und nach Tropennächten wie im Juni dieses Jahres in Wien etwa das Cooling Center des Roten Kreuzes in der Wiener Shopping City Nord zu erreichen, in dem sich Passanten abkühlen und ausruhen können, oder um ins nächste Schwimmbad zu gehen. Die Lösung könne nur "ein Netz aus kleinen Räumen" sein, sagt Hutter. Er schlägt vor, etwa die kühlen Kellerräume von Wohngebäuden zu adaptieren. "Sonst ist es nicht möglich", sagt er. "Ins Auto sollen sich die Leute bei der Hitze nicht setzen müssen."

Als Folge der Tragödie von 2003 gibt es in Frankreich einen Notfallplan und Frühwarnsysteme. Für ältere und behinderte Menschen gibt es ein Register, in das sie sich eintragen können, um versorgt zu werden. Öffentliche Gebäude sind klimatisiert, die Parks bleiben über Nacht geöffnet. In größeren Städten gelten laut "Schweizer Rundfunk" Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge. Außerdem hat Frankreich seither stärker ein Auge auf Obdachlose und versorgt sie mit Wasser.

Für Hutter kommen durch die Klimakrise zahlreiche Aufgaben auf das Gesundheitssystem zu. Diese reichen von der abgestimmten Urlaubsplanung von Hausärzten, der psychischen Betreuung von traumatisierten Personen nach Umweltkatastrophen bis zur ärztlichen Einstellung und Adaptierung von Medikamenten.

Eines hebt der Umweltmediziner Hutter aus den Lehren Frankreichs aber am stärksten hervor: die Nachbarschaftshilfe. Oft sei mit Anklopfen bei der Türe nebenan, die Jalousie herunterzulassen, einem Glas Wasser und der Frage "Wie geht es Ihnen?" schon mehr getan, als man glaubt.

Hans-Peter Hutter ist Teil des Panels "Sind Europas Gesundheitssysteme auf die Klimakrise vorbereitet?"
des European Forum Alpbach
(14. bis 30. August 2019)