)
Die "Demokratisierung" der Wissenschaft in der Corona-Pandemie birgt auch Gefahren.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es sind nun bald zwei Jahre, dass diese Pandemie unser Leben und die Gesellschaft beherrscht. Es ist daher Zeit, einen Versuch zu wagen, um über die Auswirkungen dieser Katastrophe auf den Bereich der Wissenschaft zu reflektieren.
Sobald einigermaßen absehbar war, was da in Form einer Pandemie als reale Bedrohung auf uns zukam, war die Wissenschaft gezwungen, in "real time" darauf zu antworten. Es ergab sich rasch die Aufgabe, den wissenschaftlichen Hintergrund für notwendige politischen Entscheidungen zu schaffen. In diesem Zusammenhang kamen zahlreiche Expertinnen und Experten zu Wort, in naheliegender Weise vornehmlich aus dem akademischen Umfeld. Allerdings war im Falle einer so plötzlich auftretenden Pandemie nicht zu erwarten, dass dazu bereits ausreichende, wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse vorliegen würden. Man musste sich der neuen Aufgabe einfach stellen.
Im Licht der Öffentlichkeit
In der Situation einer neuen Pandemie waren durch die Dringlichkeit, die Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber und die Öffentlichkeitsarbeit selbst Fähigkeiten von Wissenschaftern gefordert, die man in diesem Ausmaß bisher nicht gekannt hatte. Es entstand der Eindruck, dass die Pandemie die Wissenschaft ins Licht der Öffentlichkeit rückt wie nie zuvor. Ich will mir hier nicht anmaßen, Leistungen der Expertinnen und Experten zu bewerten, die sich diesem herausfordernden Thema zugewandt haben. Auch sollen hier nicht mögliche Unterschiede in den Schlussfolgerungen oder Widersprüche diskutiert werden, mit denen unter diesen Umständen zu rechnen war. Und natürlich ist es im Nachhinein immer leichter, sinnige Kommentare abzugeben.
Aber dennoch, als ein erster kritischer Punkt bestand von Anfang an der Eindruck, dass es einfach zu viele aus der Wissenschaft waren, die sich in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet haben. Den üblichen Kriterien für die Bewertung wissenschaftlicher Expertise auf einem bestimmten Gebiet, wie etwa der Bewertung der bisher zum Thema in angesehenen internationalen Journalen publizierten wissenschaftlichen Beiträge, kam in dieser so neuartigen Situation naturgemäß weniger Bedeutung zu. Dies führte zu einer Art "Demokratisierung" der Wissenschaft: Es wurden viele gefragt, aber zu anderen wissenschaftlichen Themen hätten vielleicht einige mehr nicht geantwortet oder sich nicht zu den Fragenden gedrängt.
Unsicherheit und Variabilität
Ein zweiter Punkt muss fast noch kritischer betrachtet werden. Es ist nicht gelungen, dass es die Kommunikation der Unsicherheit hinter wissenschaftlichen Einschätzungen im erforderlichen Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein geschafft hat. Entscheidungsträger bevorzugen klare Antworten aus der wissenschaftlichen Beratung, die dann vielleicht eher mit "Ja" oder "Nein" kommuniziert werden als mit "Wahrscheinlich ja" oder "Wahrscheinlich nein", was oft intellektuell redlicher wäre.
Einerseits gehört die Quantifizierung von Unsicherheit in wissenschaftlichen Publikationen aus dem medizinischen Bereich zum Standard, andererseits ist aber eine einigermaßen verständliche Kommunikation von Unsicherheit und Variabilität wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Öffentlichkeit ein heikles Problem und eine große Herausforderung. Mit Fortgang der Pandemie schien Unsicherheit einer trügerischen Sicherheit zu weichen. Das rächt sich spätestens dann, wenn etwa mit dem zufälligen Auftreten einer Mutation des Virus oder mit einem früheren Nachlassen der Schutzwirkung der Impfung als erwartet plötzlich völlig andere Rahmenbedingungen entstehen.
Von Anfang an wusste man aus den Daten der klinischen Studien, dass eine Impfung nicht vollständig schützt, aber dass sie die Risiken sehr stark reduziert. Wie lange die Schutzwirkung tatsächlich anhält und wie weit sie auch gegen Mutationen des Virus hilft, das konnte man noch nicht wissen. Als Israels oberster Corona-Beamter Salman Zarka jüngst in einem Interview im "Spiegel" gefragt wurde, ob er wie andere davon ausgehe, dass die Pandemie im Frühjahr 2022 enden werde, antwortete er: "Falls die dritte Impfung wirkt, sind wir auf einem guten Weg. Aber bitte rufen Sie im Frühjahr wieder an. Dann kann ich Ihnen eine bessere Antwort geben." Das klingt wohltuend ehrlich.
Selbsternannte Experten
Man könnte dagegenhalten, dass Kommunikation von Unsicherheit in dieser Radikalität im Umfeld politischer Entscheidungen selbst wieder Unsicherheit schaffen könnte, zum Beispiel mit negativen Auswirkungen auf den Erfolg von Maßnahmen gegen die Pandemie. Aber ohne eine Einbeziehung von Unsicherheit kommt die Abrechnung spätestens dann, wenn etwa Prognosen nicht eingetroffen sind - und das ist oft passiert. Dann öffnen sich Tür und Tor für allerlei "Theorien", die von selbsternannten Experten propagiert werden und ihre Anhänger in der Bevölkerung finden, wie wir gerade erleben müssen. Der Wahrheitsgehalt der Theorien verliert dabei seine Bedeutung, schließlich gibt es auch bei Personen mit entsprechender Expertise Irrtümer, das Vertrauen in die Wissenschaft sinkt. Eine derartiger weiterer Schritt der "Demokratisierung" der Wissenschaft von und für jedermann ist äußerst irritierend und gefährlich.
Es scheint in unserer Gesellschaft das Problem zu bestehen, ein vernünftiges Verhältnis zu den Phänomenen "Risiko" und "Unsicherheit" zu finden. Nicht nur der derzeitige Impfstatus der Bevölkerung könnte als ein Beleg dafür gewertet werden, es ist auch die Art und Weise, wie die Politik und die Medien mit diesem Phänomen umgehen. Wenigstens beim Wetter finden sich in seriösen Prognosen nun schon seit längerer Zeit Einschätzungen wie "Wahrscheinlichkeit für Regen".
Vielleicht hilft die Erfahrung aus der Pandemie den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, in Zukunft mehr Augenmerk auf die (öffentliche) Kommunikation von Unsicherheit zu legen, und hoffentlich auch den Bürgerinnen und Bürgern, Begriffe wie "Risiko" und "Wahrscheinlichkeit" stärker in ihre Überlegungen und persönlichen Entscheidungen einzubinden. Schließlich zählen sie zu den wesentlichen Spielregeln in unserer belebten Welt.