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Die Kraft der Vernunft

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung".
© WZ

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Der August vor zehn Jahren - das war das Monat der Ruhe vor dem Sturm. Ende Juli 2008 war bereits klar, dass die beiden Hypothekeninstitute Fannie Mae and Freddie Mac ohne staatliche Hilfe nicht überleben können. Beide Institute hatten Garantien oder Kredite für mehr als 12 Billionen Dollar vergeben, den Experten war klar, dass ein Kollaps dieser Geldhäuser die gesamte US-Wirtschaft in den Abgrund reißen würde. Am 15. September kam es dann zum großen Knall: Die Investmentbank Lehman Bros. war Bankrott. Eine Kettenreaktion war die Folge: In den USA kam es zur Kernschmelze des Finanzsystems, das Chaos begann sich auch nach Europa auszubreiten.

Wo stehen wir zehn Jahre danach? Ist das Weltfinanzsystem heute resilienter, robuster und sicherer? Der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz warnt in seiner Eröffnungsrede in Alpbach, dass nach wie vor zu wenig unternommen worden sei, um eine Wiederholung der Krise von 2008 zu verhindern - das System werde sogar wieder verwundbarer. Im Interview mit der "Wiener Zeitung", das in der Freitag-Ausgabe erscheint, warnt Stiglitz vor den Auswirkungen der aktuellen Türkei-Krise. Letztlich sei dies eine Folge der Zinserhöhung durch die US-Notenbank: Länder mit negativen Leistungsbilanzen geraten dadurch in Finanzierungsprobleme - wie eben die Türkei. Und wie Stiglitz nahelegt, wird die Krise am Bosporus unter anderem dadurch verstärkt, dass der türkische Präsident fähige, kompetente Leute im Finanzministerium und in der staatlichen Zentralbank durch Lakaien oder gar seinen Schwiegersohn ersetzt hat.

Alpbach, das Dorf der Denker in den Tiroler Bergen ist jener Ort, in dem sich Intellektuelle, Experten und Forscher den Kopf über die Probleme Österreichs, Europas und des ganzen Planeten zerbrechen. Das Beispiel der Türkei zeigt, dass man einen Preis dafür zahlt, wenn man wie Recep Tayyip Erdogan den Rat seiner Ökonomen in den Wind schlägt und stattdessen auf Voodoo-Ökonomie setzt.

Tatsächlich muss es frustrierend für viele Gäste in Alpbach sein, wenn man bedenkt, wie Teile von Politik und Gesellschaft mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgehen. Klimaleugner machen Schwankungen in der Sonnenaktivität für den derzeit dramatisch rasch ablaufenden Klimawandel verantwortlich, obwohl die Wissenschaft längst Treibhausgase als hauptverantwortlich für den derzeitigen Klimawandel ausgemacht hat. Impfgegner riskieren, dass längst besiegt geglaubte Infektionskrankheiten zurückkehren. Die Anti-Aufklärer sind auf breiter Front auf dem Vormarsch.

Alpbach sendet auch heuer wieder ein starkes Signal für die Kraft der Vernunft aus den Tiroler Bergen. Man kann nur hoffen, dass es auch im Tal gehört wird.