Der Soziologe und Philosoph Greg Yudin über die Gründe für den verbreiteten Zynismus, der nicht nur die russische Gesellschaft befallen hat, Konservatismus in Russland und den ideologischen Schlingerkurs der Führung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": In der vergangenen Dekade hat sich Russland als Staat verkauft, der seine konservativen Werte verteidigt - als eine Art Gegenstück zum linksliberalen Westen. In letzter Zeit hat sich an dem vermeintlichen Gegensatzpaar linksliberaler Westen versus konservatives Russland aber einiges geändert. In den USA ist heute Donald Trump Präsident, und Russland pflegt nicht nur gute Kontakte mit rechten Parteien, etwa in Europa, man unterstützt auch linke Regierungen wie etwa in Venezuela. Wo steht der Kreml eigentlich ideologisch?
Greg Yudin: Die russische Führung besteht nicht aus Ideologen. Sie geht im Gegenteil sehr pragmatisch vor. Der Umstand, dass der Kreml einmal linke und dann wieder rechte Kräfte weltweit unterstützt, hat damit zu tun, dass er konkurrierende politische System destabilisieren will, indem er die politischen Ränder unterstützt. Etwa in Deutschland. Dort hat sowohl die extreme Rechte als auch die extreme Linke gute Kontakte zur russischen Regierung. Ein ideologisches Konzept lässt sich aus dieser Politik nicht ableiten.
Was soll diese Destabilisierung dem Kreml eigentlich bringen?
Indem man den Rivalen schwächt, stärkt man die eigene Position. Konflikte innerhalb der gegnerischen Staaten schwächen diese Länder, deshalb hat es für Russland Sinn, diese Konflikte anzuheizen. Natürlich gibt es in der russischen Elite aber auch ein Misstrauen gegenüber dem kulturellen Liberalismus des Westens, den man für verlogen hält. In der russischen Führung glaubt man nicht, dass die liberaldemokratischen Ideen des Westens ein passendes Fundament für ein politisches System darstellen können.
Also vertritt man letztlich doch eine antiliberale Position, oder?
Von einer Ideologie wird Russlands politisches System nicht getragen. Das zeigt sich nicht nur, wenn man sich ansieht, wen der Kreml international unterstützt. Es zeigt sich auch innerhalb Russlands. Die Botschaft, die die Führung seit dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 an die Bevölkerung aussendet, ist recht simpel: Haltet Euch aus der Politik raus, und wir sorgen dafür, dass ihr mit eurer Familie ein Leben in einem gewissen Wohlstand führen könnt. Mehr gibt es da nicht, auch keine konservativen Werte wie Familie oder Ähnliches. Die russischen Eliten stehen für gar nichts.
Das klingt wie Putins bekanntes Signal an die Oligarchen: Wir lassen euch eure Geschäfte machen, aber mischt euch nicht in die Politik ein.
Genau. Diese Botschaft gilt eben nicht nur für die Oligarchen, sondern für die gesamte Bevölkerung. Diese Entpolitisierung der Sphäre des Politischen, dieses Raushalten der Bevölkerung aus der Politik hat aber Folgen. Politiker werden in Russland in der Regel tief verachtet. Einzig Putin gelingt es - zumindest bei manchen - noch mit Mühe, sich als derjenige darstellen, der als Präsident quasi über den Sphären der dreckigen Politik schwebt. Nun hat das Vertrauen in die Politik bekanntlich nicht nur in Russland gelitten, sondern weltweit, auch im Westen. Die Entwicklung in Russland verläuft aber wie unter einem Brennglas. Man vertraut keinem Politiker, traut niemandem zu, einen Wandel zum Positiven bewirken zu können, auch keinen konservativen Politikwechsel. Die russische Führung ist sehr flexibel. An einem Tag gibt sie sich liberal, dann wieder sozialistisch und dann konservativ. Aber diese Worte sind nur Attrappen, mit denen manipuliert und jongliert wird. Eigentlich gibt es nur ein Wort, mit dem die russische Führung niemals spielen würde: Revolution. Weil es einen klaren Realitätsbezug hat und für den Kreml gefährlich ist.
Das hat man auch 2017 gesehen, als der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution, der in der Sowjetunion noch ein Fixpunkt der Erinnerungskultur war, kaum mehr gefeiert wurde.
Ja, das Thema wurde weitgehend ausgespart. Und wenn man sich doch daran erinnerte, dann in Form von staatlich unterstützten TV-Serien, deren Stoßrichtung interessant war. Die Bolschewiki wurden in diesen Serien und Dokumentationen als Spione dargestellt, die von Deutschland eingeschleust worden waren. Es war also das Ausland, das die Revolution in Russland orchestriert und damit Unruhe und Spaltung nach Russland getragen hatte. Auch der Aufstand der Dekabristen gegen Zar Nikolaus I. 1825 wurde kürzlich negativ bewertet. Für einen revolutionären Umsturz, so die Botschaft der russischen Führung, kann es keine wie immer geartete Begründung geben. Politik ist nach Ansicht des Kremls dazu da, Revolution zu verhindern - zumindest innerhalb Russlands. In diesem Sinne kann man das russische Regime tatsächlich ein konservatives nennen. Aber nur in diesem Sinn.
Diese pragmatische Sichtweise mag manche verwundern. Schließlich finden zumindest im Westen heftige ideologische Kämpfe statt, wenn man an die Themen Klimawandel oder Migration denkt. Im Gegensatz dazu scheint sich die Bevölkerung in Staaten wie Russland, Weißrussland und der Ukraine - in schroffem Gegensatz zu früheren Zeiten - für politische Ideen nicht sonderlich erwärmen zu können. Woher kommt dieser Pragmatismus?
Die Nachfolgestaaten der UdSSR haben zwei Dinge aus dem Westen importiert: Liberalismus und Demokratie. Die Demokratie hat sich in zumindest in Belarus und Russland niemals wirklich verankert. Der Wirtschaftsliberalismus, also die Idee von Marktwirtschaft, Prosperität und Wettbewerb, wurde in Russland aber durchaus angenommen, von den 1990er Jahren bis heute. Natürlich ist die Gedankenwelt der russischen Eliten keine liberale im westlichen Sinne. Diese Leute glauben auch nicht an irgendeine Art von Solidarität. Das, an was sie glauben, ist ihr individuelles Glück, ihr persönlicher Vorteil jenseits kollektiver Ideale. Jeder, der politische Ziele äußert, wird sofort verspottet. Das ist zutiefst zynisch.
Ist diese Sichtweise nicht auch eine Reaktion auf 70 Jahre intensive Ideologisierung während der Sowjetzeit?
Ja, auch. Besonders in der späten Sowjetunion glaubte niemand mehr an die verblichenen Traumbilder von Weltrevolution und kollektivem Glück im Kommunismus. Aber auch was danach kam, hat zur Desillusionierung beigetragen. Nach dem Ende der Sowjetunion hat man Politik durch Ökonomie ersetzt - ein Vorgang, der ja weltweit abläuft, in Russland aber eben noch stärker und ohne demokratisches Gegengewicht. Das vorherrschende ökonomische Paradigma, das von individuellem Eigeninteresse als wesentlichem Movens für menschliches Handeln ausgeht, hat sich in Russland durchgesetzt, auch und gerade in der Politik. Wenn sie diese Weltsicht übernehmen, kommen sie automatisch zum Schluss, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist. Niemand hat den Eindruck, dass Politiker deshalb in die Politik gehen, um sich fürs Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Sondern schlicht und ergreifend, um reich zu werden. Deshalb war diese Art von Liberalismus in Russland auch sehr erfolgreich. Die Re-Ideologisierung, von der Sie gesprochen haben, ist möglicherweise eine Reaktion auf diese Entwicklung, die ja weltweit abläuft. Deshalb könnte es auch sein, dass Russland für eine neue ideologische Welle gegen diesen gerade in Russland besonders schroffen Wirtschaftsliberalismus auch besonders anfällig ist.
An Kräften, die – im Falle einer Krise - einen solchen Gegenschlag führen könnten, mangelt es ja nicht. Erst kürzlich, während der Ukraine-Krise 2014, hat man im Westen davon gesprochen, dass in Russland die "eurasischen" Ideen eines Alexander Dugin recht populär sind. Dugin, der weltweit aktiv ist, hat den Liberalismus ja in jeder Hinsicht zum Feindbild auserkoren. Wie mächtig sind solche antiliberalen Strömungen eigentlich? Auch wenn man bedenkt, dass Russland geschichtlich kaum jemals ein liberales Land war.
Auch Leute wie Dugin werden vom Kreml instrumentalisiert. Er war lange eine Art rechtsextremer Freak, bis sich ihm 2014 mit der Ukraine-Krise eine gewisse Chance bot, seinen Wirkungskreis zu vergrößern. Das hielt aber nur sehr, sehr kurz an - vielleicht sechs, sieben Monate. In dieser Zeit hatte er einen gewissen Einfluss aufgrund seiner zur damaligen russischen Politik passenden "eurasischen" Rhetorik. Den verlor er aber rasch, genau wie seinen Lehrstuhl für Soziologie an der Moskauer Universität. Das sagt etwas aus, nämlich: All diese Polit-Ideologen, die eine politische Mobilisierung anstreben – ganz egal, ob sie jetzt von links oder von rechts kommen, ja sogar ob sie die Regierung unterstützen oder sie ablehnen – sie alle werden an den Rand gedrängt. Der Grund ist simpel: Es ist nicht gewünscht, dass sich jemand politisch engagiert – es sei denn, es ist von oben angeordnet und gelenkt. Es sollte keinerlei echte Initiativen geben. Das gilt auch für Kräfte, die dem Kreml genutzt haben, wie etwa Igor Girkin vulgo Strelkow, der den Aufstand in der Ostukraine orchestriert hat. Auch er wurde marginalisiert, als man ihn nicht mehr brauchte. Weil er potenziell zum Führer einer politischen Bewegung werden könnte. All diese Ideologen und potenziellen Politiker werden deswegen unter Kontrolle gehalten, weil sie politisch sind. In der Sicht des Kremls sollte die politische Arena von ihnen freigehalten werden.