Führungsdebatte in Regierungskoalition wird vorläufig aufgeschoben | Auch SPD verliert. | "Merkeldämmerung?" betitelte die ARD ihre sonntägliche Diskussionsrunde deutscher Journalisten. Das nachgestellte Fragezeichen ist berechtigt, betrachtet man die Ergebnisse des traditionellen CDU-Konkurrenten, der SPD, die wenige Stunden nach dem zur Mittagsstunde abgehaltenen Gespräch einlangten. Das schlechteste Nachkriegs-Ergebnis der SPD in Baden-Württemberg, zehn Prozent Verlust in Rheinland-Pfalz - die Jubelschreie der Sozialdemokraten hätten eigentlich noch gedämpfter ausfallen müssen, als sie es taten.
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Die Kernkompetenz, die sich die SPD selbst zuschreibt, nämlich die der sozialen Sicherheit, spielte angesichts der Atomkatastrophe in Japan keine Rolle mehr, wie auch aus Wahlmotiv-Befragungen hervorgeht. Gleiches gilt übrigens auch für Die Linke, deren Rolle in möglichen künftigen Koalitionen noch vor zwei Jahren für heftige Diskussionen sorgte. Nun ging sie im atomaren Strudel völlig unter.
Auch das Abschneiden der CDU unter ihrer Chefin Angela Merkel wurde ebenso wie jenes der Grünen entscheidend von den Vorgängen in Japan bestimmt. Aber während die Grünen davon profitieren konnten, weil der Widerstand gegen die Atomkraft ein Gründungselement dieser Partei gewesen ist, schlug das Pendel bei der CDU in die andere Richtung aus. In beiden Fällen ging es um Kernkompetenzen - der Glaube an Hochtechnologie und Wirtschaftskraft, den die CDU verkörpert, erlitt aber in Fukushima einen herben Rückschlag.
CDU schon länger in der Krise
Die Krise der CDU ist allerdings nicht erst vor zwei Wochen ausgebrochen. Von Anfang an stand die Wunschkoalition von Union und FDP unter keinem guten Stern. Die ersten Monate vergingen im Dauerstreit zwischen CDU, CSU und FDP über Steuererleichterungen, Hartz-IV-Reform und Finanzierungsfragen. Kanzlerin Merkel wurde in den Medien und schließlich auch koalitionsintern für ihre bloß moderierende Rolle hart kritisiert.
Erst nachdem sich in Nordrhein-Westfalen im Juli eine rot-grüne Minderheitsregierung gebildet hatte, entschloss sich Merkel allmählich, mehr Entschlusskraft zu zeigen und rief einen "Herbst der Entscheidungen" aus. Tatsächlich wurden die Weichen gestellt für ein Integrationspaket und die Sistierung der Wehrpflicht. Im baden-württembergischen Streit um das Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" positionierte sich die Kanzlern als Verfechterin des Fortschritts und schalt die Grünen als "Verhinderpartei". Und schließlich wurde die Verlängerung der AKW-Laufzeiten beschlossen - eben jener Punkt, der ihr jetzt so zu schaffen macht.
Den Schwenk, nun sieben Atomkraftwerke zuzusperren, die im Herbst noch als sicher galten, wollte der CDU niemand so recht abnehmen. Vor allem schwarze Kernschichten zeigen sich verunsichert, warum man von der traditionell atomfreundlichen Haltung so radikal Abschied nimmt. Darauf nahm Altkanzler Helmut Kohl noch vor der Wahl Bezug, als er in einer seiner seltenen öffentlichen Stellungnahmen vor der "berühmten Rolle rückwärts" warnte.
Aufgeben von Prinzipien
Auch in der Libyen-Frage gab die schwarz-gelbe Regierung unverrückbar scheinende Grundsätze auf, indem man sich bei der UNO-Resolution zur Flugverbotszone der Stimme enthielt und damit aus der gemeinsamen Front des Westens ausscherte. Als SPD-Kanzler Gerhard Schröder - damals in Gesinnungsgemeinschaft mit Frankreich - die Teilnahme am Irak-Krieg der USA verweigerte, reiste Merkel extra nach Washington, um dort zu versichern, mit ihr würde es nie einen deutschen Sonderweg geben.
Die Frage, ob die Kehrtwende in der Atompolitik nicht ein noch ärgeres Debakel verhindert hat, wie Umweltminister Norbert Röttgen glaubt, ist müßig verglichen mit der Frage, ob die CDU mit der Aufgabe von Prinzipien Wähler eher gewinnt oder eher abstößt. Darum wird wohl die innerparteiliche Debatte in den nächsten Wochen kreisen. Das gilt auch für die FDP, die sich trotz des prinzipientreuen Festhaltens an Steuererleichterungen in finanziellen Krisenzeiten im freien Fall befindet.
Dem Parteichef der Liberalen, Guido Westerwelle, wird dabei allerdings zugute kommen, dass sich auch eine mögliche Alternative für seinen Posten, Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, selbst ins Aus geschossen hat, indem er die Kritik bestätigte, dass die Atom-Wende nur Wahlkampftaktik sei. Daher dürften in der FDP wohl nur Bauernopfer unterhalb der Chefebene bevorstehen.
Ähnliches gilt auch für Merkel, der die Grünen hoffnungsfroh ein Aus noch vor der Bundestagswahl 2013 prophezeien. Vorläufig scheint die Kanzlerin aber noch außer Streit. Hilfreich ist ihr dabei ausgerechnet eine Affäre, die ihrer Parteifamilie in den letzten Wochen gleichfalls geschadet hat. Wäre Karl-Theodor zu Guttenberg noch unbeschädigt in Amt und Würden, würde die Führungsdiskussion wohl wirklich entbrennen.