)
Martin Wolf, Kolumnist der "Financial Times" und Autor, über die Polykrise und warum er trotzdem Optimist ist.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In München treffen sich die Tech-Eliten jedes Jahr bei der Konferenz DLD - Digital Life Design der Hubert Burda Media. Dieses Jahr erregte dort Martin Wolf, Kolumnist der "Financial Times", mit einer aufrüttelnden Rede über die Krise des demokratischen Kapitalismus viel Aufsehen.
"Wiener Zeitung": Sind Sie Optimist oder Pessimist?
Martin Wolf: Da halte ich es mit dem italienischen Schriftsteller und marxistischen Denker Antonio Gramsci, der in seinen Gefängnisheften vom "Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens" geschrieben hat. Die Moral verpflichtet geradezu zu Optimismus, denn ist es nicht unser aller Aufgabe, die Welt besser zu machen? Gleichzeitig: Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden. Und man muss zugeben, dass wir vor enormen Problemen stehen. Optimismus darf also nicht heißen, die Augen zu verschließen und darauf zu vertrauen, dass schon alles irgendwie gut werden wird. Gut wird es nur, wenn man dafür sorgt, dass es gut wird. Das Mindestziel: Zu verhindern, dass alles noch schlechter wird.
Ihr in Kürze erscheinendes Buch widmet sich der "Krise des demokratischen Kapitalismus". Es ist der Nachfolger zu Ihrem 2014 erschienen Werk "The Shifts and the Shocks", das sich der Finanzkrise widmete. An dieser Stelle die Erklärung meiner ersten Frage, ob sie eigentlich Optimist sind, denn die Lage der Welt hat sich seit 2014 nicht gerade verbessert, oder?
Tja. Ich darf noch weiter ausholen: 1997 begann die Asienkrise, das war damals ein massiver Schock für Länder wie Thailand, Korea und viele Länder Südostasiens. Die Asienkrise hat gezeigt, wie instabil unser Finanzsystem ist. Die Finanzkrise von 2008 hat dann das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem vor allem in den USA und Europa nachhaltig erschüttert. Am Ende von "The Shifts and the Shocks" schreibe ich, dass wir uns es nicht leisten können, dass so etwas noch einmal passiert. Mir war klar: Wenn sich das, was 2008 passiert ist, wiederholt, dann sind wir erledigt. Denn diese Krise hat Raum geschaffen für den demagogischen Rechtspopulismus. Denn verunsicherte und wütende Menschen sind das Substrat, auf dem diese Bewegungen gedeihen. Freilich: In den Jahrzehnten davor hat die Deindustrialisierung ganzer Landstriche dazu geführt, dass die Arbeiterschicht dort marginalisiert und damit Arbeiterbewegung, Gewerkschaft und Mitte-links massiv geschwächt wurde. Die Krise von 2008 hat das dann weiter verschärft. Und sie hat noch etwas getan, denn seither sind auch die Mitte-rechts-Parteien erledigt. In Italien waren sie schon vor der Krise kaputt, doch dann hat es auch Frankreich getroffen, in den USA hat Donald Trump im Jahr 2016 die Republikaner gekidnappt. Die Konservativen in Großbritannien stecken ebenfalls in der Krise, Österreich hat Sebastian Kurz hervorgebracht und auch die CDU hatte schon bessere Zeiten. Wenn aber die Parteien links und rechts der Mitte in Schwierigkeiten stecken, dann macht das Platz für Extremisten frei. Und Extremisten sind nie demokratisch.
Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement in der Covid-Krise?
Das war grundvernünftig, auch wenn da und dort übertrieben wurde. Was niemand voraussehen konnte, war, dass wir so rasch einen wirksamen Impfstoff haben würden und damit die Erholung der Wirtschaft so schnell gelingt. Das Gute war: In der EU konnte man anders als 2008 nicht den Griechen oder den Italienern oder sonst wem die Schuld geben. Covid hat alle gleichermaßen getroffen, das Krisenmanagement hat gut funktioniert. Freilich ist die Welt immer noch in einer fragilen Phase und der Ukraine-Krieg macht die Dinge nicht einfacher. Die Regierungen sind weiter gefordert. Was mir Sorge bereitet: Warum gibt es in den USA und in Europa diese enorme Skepsis gegenüber dem demokratischen System? Warum sind so viele Menschen unzufrieden? Liegt es daran, dass niemand in Westeuropa - sieht man von Spanien und Portugal ab - mehr weiß, wie es ist, in einer Diktatur zu leben? In Ungarn müsste eigentlich die Erinnerung an die Diktatur noch lebendig sein. Und trotzdem stimmen die Menschen für jemanden wie Viktor Orbán. Das ist für mich völlig unverständlich.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass im Westen Demokratie und Kapitalismus eng verwoben sein müssen, damit das System funktioniert.
Ungezügelter Kapitalismus endet in einer Oligarchie oder im Faschismus. Eine funktionierende Demokratie braucht soziale Sicherheit und einen Wohlfahrtsstaat. Und das muss finanziert werden. Gleichzeitig geht es in der Demokratie nicht zuletzt darum, die Macht der Plutokraten, der Superreichen und der Reichen zu beschränken und die Rechte der weniger Wohlhabenden zu stärken. Vor der Zeit der modernen Demokratie war alles viel übersichtlicher: Kaiser, König, Kirche und der Adel hatten Macht, Geld und Wissen. Heute ist die demokratische Gesellschaft - und das ist gut so - viel komplexer. Sie ist aber damit auch fragiler. In den heutigen Wissensgesellschaften kann man eigentlich nur mehr dann erfolgreich sein, wenn man über eine exzellente Ausbildung verfügt. Und das hängt heute vom sozialen Status der Eltern ab - und das wiederum reduziert die soziale Mobilität. Breiter Zugang zu Bildung ist ein zentrales Element sozialer Gerechtigkeit.
Einer der Vorteile von Demokratie ist, dass es jederzeit die Möglichkeit zur Kurskorrektur gibt.
Absolut. Denken Sie an das Beispiel der britischen Premierministerin Liz Truss - sie regierte spektakulär glücklos und sie war nach 44 Tagen Geschichte. China kann Präsident Xi Jinping nicht loswerden - obwohl das eine gute Idee wäre. In Russland kann man Wladimir Putin nicht in die Wüste schicken, ohne fürchten zu müssen, dass es zu Tumulten oder sogar bewaffneten Zusammenstößen kommt. In den USA wiederum konnte man sogar einen Typen wie Donald Trump aus dem Weißen Haus schmeißen. Das Problem westlicher Demokratien ist der demagogische Rechtspopulismus. Warum haben die Populisten Erfolg: Sie zeigen Probleme auf und sprechen die Nöte von breiten Bevölkerungsschichten an. Aber es ist ganz klar, dass sie keine Lösungen anbieten und dass sie keine Alternativen haben.
Warum schafft es die Linke nicht, gegen die Rechtspopulisten die Oberhand zu gewinnen?
Die Linksparteien sind heute von Menschen dominiert, die eine gute Ausbildung an einer Universität genossen haben. Anstatt über soziale Gerechtigkeit und den Wohlfahrtstaat zu sprechen, gibt es Diskussionen über Identitätspolitik oder Debatten über Symbolpolitik - das ist ziemlich weit von der Erfahrungswelt der Arbeiterschichten entfernt. Grünen Parteien wiederum gelingt es zu wenig, den Arbeiterschichten die Energiewende schmackhaft zu machen. Joe Biden unternimmt den interessanten Versuch, die Energiewende als Jobmotor zu promoten. Insgesamt scheint er in der Lage zu sein, eine Sprache zu finden, die von diesen Wählerschichten verstanden wird.
Die Energiewende ist essenziell, um der Klimakrise entgegenzutreten. Glauben Sie, dass die Menschheit zu koordiniertem Handeln fähig sein wird?
Menschen sind nicht gut darin, gleichzeitig miteinander im Wettbewerb zu stehen, sich vor Ungemach zu schützen, dabei aber einen direkten Konflikt zu vermeiden und dann auch noch zu kooperieren. Die westlichen politischen Strukturen helfen dabei nicht gerade. US-Präsident Franklin D. Roosevelt hat nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, mit den Bretton-Woods-Institutionen und den Vereinten Nationen eine politische Ordnung der Kooperation zu etablieren. Zwei große Kriege in Europa zwischen 1914 und 1945 und gleichzeitig Krieg in Asien - das sollte sich nicht wiederholen. Eigentlich hätte man angesichts von Covid-19 mehr weltweite Kooperation erwartet - immerhin war die gesamte Menschheit betroffen. Doch das ist nicht geschehen. Klar ist: Die Klimakrise kann nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung der Menschheit gelöst werden - doch scheinbar ist das leider den wenigsten bewusst.
Die große Leistung der Menschheit ist, durch Genialität eine Welt der den ganzen Planeten umspannenden Interaktion, des unglaublichen technologischen und gesellschaftlichen Fortschritts geschaffen zu haben - aber das mit dem Charakter eines Steinzeitmenschen. Das Genie des homo sapiens, der Charakter nicht einmal des homo erectus. Mein jüngstes Buch "The Crisis of Democratic Capitalism" habe ich meinen Enkeln gewidmet. Da schreibe ich: Ich hoffe, dass ihr es besser macht, als wir.
Buchtipp~