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Die Krise rückt Viktor Orban näher

Von Alexander Dworzak

Politik
Viktor Orbans Preisdeckel für Treibstoff und Lebensmittel haben die Inflation zusätzlich angefacht.
© reu / Bernadett Szabo

Budapest muss um 12,1 Milliarden Euro aus EU-Mitteln bangen.


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Von einem "Megadeal" schwärmte der tschechische EU-Ratsvorsitz, von einem Sieg Ungarns sprach der Kanzleiminister von Premier Viktor Orban. Beide Seiten feiern sich aus unterschiedlichen Gründen: Ungarn gibt seine Blockade gegen EU-Hilfszahlungen an die Ukraine auf. 18 Milliarden Euro können somit Richtung Kiew fließen, sie decken Pensionen und stellen den Betrieb von Schulen und Krankenhäusern sicher. Eingelenkt hat die ungarische Regierung auch beim Mindeststeuersatz globaler Unternehmen in der EU in Höhe von 15 Prozent. Im Gegenzug wurde der Betrag zurückgehaltener EU-Fördermittel, eingefroren aufgrund mangelnder Rechtsstaatlichkeit und überbordender Korruption in Ungarn, von 7,5 auf 6,3 Milliarden Euro abgeschmolzen. Weitere 5,8 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds sind an die Erfüllung von 27 "Meilensteinen" geknüpft, die ebenfalls zu mehr Rechtsstaatlichkeit führen sollen.

Was nach einem klassischen Austausch klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als - vorläufige - Niederlage der nationalpopulistischen Regierung in Budapest. Dass überhaupt Mittel für Ungarn zurückgehalten werden, war alles andere als sicher. Die von der EU-Kommission Ende November präsentierten Pläne, welche das Einbehalten von 7,5 Milliarden Euro vorsahen, benötigten das Ja von 15 Ländern, die mindestens 65 Prozent der Unionsbevölkerung ausmachen. Beobachter rechneten damit, dass viele EU-Staaten ein Auge zudrücken würden, damit sie Ukraine-Hilfe und Mindeststeuersatz endlich abhaken können. Wie schnell man das Thema loswerden möchte, zeigt auch, dass die formale Ungarn-Einigung vor dem EU-Gipfel am Donnerstag besiegelt sein soll. Somit könnten sich die Staats- und Regierungschefs anderen Themen widmen.

Insgesamt stehen für Ungarn 12,1 Milliarden Euro auf dem Spiel, bei einem Bruttoinlandsprodukt von 153,8 Milliarden Euro im Jahr 2021. Jene 6,3 Milliarden Euro, die nun zurückgehalten werden, machen 55 Prozent der geplanten Mittel für Ungarn aus dem sogenannten Kohäsionsfonds aus; der Kommissionsvorschlag lag bei 65 Prozent. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sagte am Montag, Österreich wolle den Empfehlungen der Kommission folgen. Daraus wurde nichts, Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) war dennoch zufrieden. Es sei "notwendig, weiter über 50 Prozent eingefroren zu halten, um die begonnen Reformschritte, die man auch anerkennen muss, fortzusetzen".

Mit einer anderen Zahl operiert R. Daniel Kelemen. Dem Professor an der Rutgers University in New Jersey zufolge entsprächen die 6,3 Milliarden Euro lediglich dem ungarischen Anteil an drei Fördertöpfen. Die gesamten Mittel nur aus dem Budget für die Periode von 2021 bis 2027 lägen bei 35 Milliarden Euro. Aufgrund der eklatanten Mängel müssten der Regierung in Budapest 100 Prozent verwehrt werden. Orban muss jedoch lediglich um 18 Prozent bangen - und das nur vorläufig - , fasst Kelemen in einem Beitrag auf Twitter zusammen.

Mehr Öl und Gas als vor der Energiekrise verbraucht

Der wahre Test, ob der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der Union funktioniert, erfolge daher laut Kelemen im kommenden Jahr. Wenn Ungarn die anderen EU-Länder überzeugen kann, dass beispielsweise die neu geschaffene "Integritätsbehörde" mehr als ein Papiertiger bei der Korruptionsbekämpfung ist, könnten 6,3 Milliarden Euro beziehungsweise 5,8 Milliarden Euro aus den EU-Quellen fließen. Blockade- und damit Abtauschmöglichkeiten werden sich auch in Zukunft für Orban auftun, zum Beispiel bei weiteren Unterstützungen für die Ukraine und Sanktionen gegen Russland, die alle EU-Länder gemeinsam treffen müssen.

Doch auch den anderen EU-Regierungen ist nicht verborgen geblieben, dass Orban innenpolitisch ungewohnt schwierige Zeiten durchmacht und dringend auf EU-Gelder angewiesen ist. Mit einer aufsehenerregenden Rede am Montag legte Notenbank-Chef György Matolcsy den Riss zwischen seiner Behörde und der Regierung offen. Angesichts der aktuellen Inflationsrate von 22,5 Prozent und einer für 2023 erwarteten Teuerung in Höhe von 8 bis 15 Prozent warf der Notenbanker Orban vor, die Regierung befeuere mit ihren Preisdeckeln auf Treibstoff und Lebensmittel lediglich die Inflation. Nur umgerechnet 1,20 Euro pro Liter für Benzin und Diesel hatte die Regierung vor Monaten verordnet, die Verbraucher spürten daher die Kriegsfolgen und reduzierten Liefermengen aus Russland nicht. Die Konsequenz: Ungarn verbrauche als einziges EU-Land mehr Öl und Gas als vor der Energiekrise, erklärte Matolcsy.

Unter den fünf gefährdetsten Ländern der Welt

Der Tankstellen-Rabatt ist umgehend gefallen, an den festgesetzten Preisen für Milch, Schweinskeulen und anderen Lebensmitteln hält die Regierung noch fest. Das Defizit 2022 werde sechs Prozent des BIP betragen, fürchtet die Zentralbank. Die Notenbank hat seit Jahresbeginn den Leitzins von 2,9 Prozent neun Mal angehoben, auf mittlerweile 13 Prozent. Die Inflation konnte dadurch aber nicht gestoppt werden. Die Währung hat sich von seinem Allzeittief gegenüber dem Euro im Oktober zwar erholt, für einen Euro erhält man derzeit rund 408 Forint. Vor einem Jahr waren es 367 Forint. Matolcsy - einst Parlamentarier und Wirtschaftsminister in Orbans Kabinett - sieht die ungarische Wirtschaft "beinahe in einer Krisensituation". Das Land zähle zu den vier bis fünf am stärksten gefährdeten - nicht bloß innerhalb der Europäischen Union, sondern global betrachtet.