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Die Krise starrt jetzt jedem ins Gesicht

Von Eva Stanzl

Wissen

Covid-19 zeigt, wie schnell sich eine ganze Welt verändern kann. Historiker Ronnie Ellenblum über die Angst einer zerbrechlichen Menschheit in Alarmstimmung.


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Wie beschäftigt man sich unter Einschränkung von sozialen Kontakten? Die kommenden Wochen werden es zeigen, doch scheint schon heute klar: Man sollte Kalorien zählen. Wer alle Vorräte auf ein Mal isst, könnte schnell zunehmen. Aus der Literatur ist außerdem bekannt, dass die Zeit schneller vergeht, wenn man sich Geschichten erzählt, wie die Protagonisten in Giovanni Boccaccios "Il Decamerone". Die gegenwärtige Lage erinnert nämlich durchaus an das stilbildende Werk des italienischen Dichters.

Florenz anno 1348. In der Stadt wütet die Pest. Sieben junge Frauen und drei junge Männer flüchten in ein Landhaus. Um sich abzulenken, erzählen sie einander 100 Geschichten zum Zeitgeschehen. Ausgehend vom Untergangsszenario des Schwarzen Todes schafft Boccaccio eine Gedankenwelt, in der die Pest zur Krankheit der Gesellschaft wird. Mit ihrem katastrophalen Wüten wird der Verlust tradierter, bis dahin geachteter Werte - christliche Nächstenliebe, Demut vor den religiösen und weltlichen Gesetzen - deutlich.

"Im dritten Kapitel gibt es keine Regierenden mehr, die Leute bekämpfen einander. Und dann beginnt der Hass", sagte der Umwelthistoriker Ronnie Ellenblum, der diese Woche auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaftern und des Complexity Science Hub Wien besuchte und Ende der Woche mit einem der letzten Flüge nach Israel zurückkehrte. "Drei Wochen kann man strenge Quarantäne-Maßnahmen aushalten. Aber danach? Wird jeder, der die Regeln nicht befolgt, gehasst?", stellte Ellenblum im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" zur Diskussion.

Die Thesen des Professors für Umweltgeschichte und Historische Geografie an der Hebrew University in Jerusalem im Bezug auf Klimaveränderungen in der Geschichte lassen sich auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 umlegen. Auf der einen Seite stünde das Selbstverständnis des Menschen, mit den richtigen Handlungsschritten egal was in den Griff bekommen zu können. Diesem Selbstverständnis würden die täglich schärferen Maßnahmen im Kampf gegen den Erreger entspringen. Gegenüber diesem Streben nach Kontrolle und Robustheit stünde die Fragilität einer Spezies, die von der ständigen Angst beherrscht sei, zu jedem Zeitpunkt alles, was sie hat, verlieren zu können.

Virale Ausbreitung der Furcht

Covid-19 geht mit grippeähnlichen Symptomen einher. Nach neuesten Erkenntnissen könnte der Erreger Sars-CoV-2 sogar kürzer infektiös sein als angenommen (siehe untenstehender Artikel). Dennoch breite sich die Furcht vor der Seuche fast viraler als die Seuche selbst aus, betont Ellenblum. "Der Mensch ist resilient und fragil zugleich. Für den Großteil seiner Geschichte betrachtete er sein Schicksal als den Naturgewalten unterworfen." Ausgelöst durch Charles Darwins Evolutionstheorie hat sich ab dem 19. Jahrhundert dann die Idee des biologischen Determinismus durchgesetzt, wonach wir mit allen Voraussetzungen geboren sind. Das Schicksal lag nun in den Genen. Mit zunehmendem technischen Fortschritt setzte sich schließlich die Annahme durch, dass der Mensch doch nicht allein von seinen Genen regiert ist, sondern dass es vielmehr in seiner Hand liegt, die Dinge zu verändern.

Wenn er nur will, kann er mit jeder Herausfertigung fertig werden, die ihm die Natur präsentiert. Diese Grundidee schwinge auch jetzt, in den Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19, mit. "Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Kraft rationalen Denkens die Natur beeinflussen kann, im Guten wie im Schlechten. Er weiß auf alles eine Antwort, sieht sich als neuer Gott."

Nun aber widersetzt sich dieser Annahme ein mikroskopisch kleines Virus, das Intensivstationen lahmlegt. Die Menschheit hält den Atem an. Ob sie den neuen, unsichtbaren Feind bezwingen kann? Sie macht den Alltag und die Industrie zur Kriegswirtschaft, ohne zu wissen, ob das etwas bringt. "Wir denken, wir seien die Einzigen, die etwas an der Lage ändern können, fühlen uns aber zugleich ohnmächtig, weil wir im Grunde wenig Einfluss haben", erklärt der Historiker. "Das rüttelt an unseren Grundfesten, weil es die ersehnte Sicherheit nicht gibt. Es begleitet uns eine existenzielle Angst."

Sorge um genug Nahrung

Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Zwar können wir uns ausrechnen, dass es im Jahr 2050 um drei oder vier Grad wärmer sein wird, aber 2050 erscheint uns sehr weit weg, zumal viele von uns dann nicht mehr leben werden. Die kommenden Monate betreffen hingegen die meisten Menschen", sagt Ellenblum. Anders als bei der Erderwärmung können wir uns aber jetzt nicht ausrechnen, was sein wird.

Außer Maßnahmen befolgen, Kalorien zählen und einander Geschichten erzählen, können wir also kaum etwas tun. "Vor drei Monaten war das Coronavirus eine Krankheit in einer kaum bekannten Stadt in China. Jetzt kollabiert Italien. Die Ausbreitung von Sars-CoV-2 ist ein Beispiel für die Geschwindigkeit, in der sich etwas ändern kann. Die Krise hat einen menschlichen Maßstab angenommen." Und das macht Angst.

Diese existenzielle Angst ist der Grund für Religionen und Herrscher. Sie beeinflusst Organisationen, Dörfer, Bürokratien, Denkrichtungen. Denn alle brauchen genug zu essen und niemand will Wohlstand verlieren. "Fragilität entsteht aus der existenziellen Abhängigkeit menschlicher Zivilisationen von der ständigen Versorgung mit Nahrungsmitteln. Diese Abhängigkeit geht mit ständiger Sorge und einem Gefühl der Hilflosigkeit einher", sagt Ellenblum. Hoffen wir, dass es in ein paar Wochen noch genug zu Essen zu kaufen gibt. Sonst könnte die Angst in Aggression umschwingen.