SPÖ und andere Volksparteien: Bürokratisierung versus Mitgliederbestimmung.
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Das waren noch Zeiten. Mehr als 720.000 Parteimitglieder soll die SPÖ Ende der 1970er-Jahre gehabt haben, rund zehn Prozent der Bevölkerung Österreichs. Die beiden Kontrahenten, die beim Parteitag der Sozialdemokraten in Linz um den Parteivorsitz rittern - Hans Peter Doskozil und Andreas Babler -, gaben an, die Mitglieder der SPÖ künftig verstärkt in Entscheidungsfindungen einbinden zu wollen. 150.000 sind es noch, die ein rotes Parteibuch ihr Eigen nennen; ein knappes Fünftel der Kreisky-Ära. Wer auch immer von den beiden das Rennen macht, es wird jedenfalls eine Zäsur darstellen, wenn künftig ein Basisvotum über den Vorsitz und über Koalitionen entscheidet.
Die "Wiener Zeitung" bat im Vorfeld zwei Parteienforscher um ihre Expertise: Was bedeuten Mitglieder noch für Parteien? Was verursachte das starke Schrumpfen der Massenpartei? Wie wichtig sind die in die Tiefe und Breite gehenden Strukturen der alten Massenparteien am Beispiel der SPÖ?
"Die Verankerung in (früher) allen Wahlsprengeln, Gemeinden und Bezirken ist natürlich, wenn die Struktur funktioniert, ein inhaltlicher und organisatorischer Vorteil", erklärt der Politikwissenschafter Peter Filzmaier. "Weil überall Organisatoren und Kommunikatoren vorhanden sind, ob diese nun eine kleine Veranstaltung managen oder Parteiinhalte vermittelt und diskutiert werden."
Eine verästelte Struktur sei "ein wesentlicher Punkt in einer Partei, die gesellschaftliche Verantwortung trägt", ergänzt Laurenz Ennser-Jedenastik von der Universität Wien. Bei Wahlen könne man vor Ort präsent sein und auf Personal zurückgreifen, dass einem gratis zur Verfügung stehe. "Für Wahllisten, den Gemeinderat bis hinauf zum Regierungsamt hat man einen größeren Rekrutierungspool für politisches Personal."
Adieu Kassier
Die Zeiten, als der lokale Parteikassier der SPÖ von Wohnung zu Wohnung der Mitglieder pilgerte, um den Mitgliedsbeitrag abzuholen, sind längst vorbei. Direkter Kontakt zum "Fußvolk" ging vielfach verloren. "Das hat natürlich die Parteibindung stark verringert, weil der regelmäßige persönliche Kontakt wegfällt", sagt Filzmaier. "Es geht hier auch gar nicht nur darum, ob Social Media diesen nicht vollständig ersetzen können - sondern, dass eben nur die Parteikassiere diesen Kontakt hatten, und andere Parteien nicht." Über moderne soziale Medien könne jede Partei und jede sonstige politische Gruppe wie NGOs, Bürgerinitiativen, Aktivistengruppe genauso Kontakte suchen wie eine Partei, "deren Social-Media-Accounts ja zudem bei weitem nicht automatisch die besten sind", wie Filzmaier ergänzt.
"Das mit dem Parteikassier ist heute nicht mehr so, aber es gibt zehntausende Gemeinderätinnen und Bezirksrätinnen in den Gemeinden und Städten", sagt Ennser-Jedenastik. "Das sind Strukturen, bei denen es sehr wahrscheinlich ist, dass jemand jemanden aus der Lokalpolitik kennt. Das kann den Draht zu Bürgerinnen und Bürgern aufrechterhalten." Dies funktioniere auf zwei Ebenen: "Die Info aus der Partei kommt in die Bevölkerung und aus der Bevölkerung in die Partei."
Als Grund für den starken Rückgang der Mitgliedschaften nennt Filzmaier soziologische Gründe: "Die Menschen treten generell, egal ob Verein oder Partei, immer seltener in jungem Alter einer Organisation bei." Bereits die Facebook-Generation habe sich demgegenüber in losen Gruppen zusammengefunden, die schnell eingerichtet und schnell via Mausklick verlassen werden können. Das gelte umso mehr für die Instagram- und TikTok-Generation. Hinzu kämen, so Filzmaier, "Dinge, die früher im gesellschaftlichen Bewusstsein irgendwie toleriert wurden und heute verpönt sind, auch wenn sie noch im legalen Rahmen passieren: Postenschacher, Parteiseilschaften, Zuschanzen von Aufträgen und so weiter". Einzelne Skandalfälle seien seit Jahrzehnten auch ein Grund für Parteiaustritte, oft aber auch nur letzter Auslöser und nicht ursprüngliche Ursache.
Patronage-Güter
"Das Kosten-Nutzen-Kalkül hat sich verschoben", meint auch Ennser-Jedenastik. "Ganz allgemein gibt es eine Schwächung von Organisationen wie der Kirche, der Gewerkschaft und der Parteien. Auf Parteienseite gibt es nicht mehr diese großen Notwendigkeiten, dass ich wegen eines Jobs oder einer Wohnung auf eine Partei angewiesen bin." Diese klassischen Patronage-Güter gebe es in der Form nicht mehr.
Die Organisation einer Massenpartei benötigt einen großen Apparat, der dann aber oft auch sein Eigenleben entwickelt. Es könne sich "eine Tendenz zur Bürokratisierung" aufbauen, erklärt Ennser-Jedenastik. Das treffe auch, aber nicht nur, auf die SPÖ zu. Eine große Partei brauche einen Verwaltungsapparat. "Da entwickelt sich oft ein Eigenleben, um eigene Interessen zu verfolgen, die nicht unbedingt zur Gesamtpartei passen." Dies wurde im SPÖ-Wahlkampf von beiden Kandidaten ins Spiel gebracht: Die Bundesgeschäftsführung wurde häufig kritisiert.
Die hierarchischen Strukturen führten "zu wenig direkter Demokratie und viel indirekter Demokratie. Es wird im Rahmen einer komplexen Gremienstruktur entschieden und Macht ausgeübt", so Filzmaier. "Traditionelle Parteien wie die SPÖ sind wie Pyramiden strukturiert - man muss ganz unten lokal und regional anfangen und mühsam nach oben klettern." Quereinsteiger seien im Prinzip unerwünscht, "weil sie ja auf einer oberen Pyramidenebene in Funktionen einsteigen und die anderen beim Bemühen um eine Funktion wieder ein Stück hinuntertreten".
Die indirekte Demokratie über Gremien müsse natürlich nicht per se negativ sein, sagt Filzmaier, "doch es führt zu mehr Distanz der Parteispitze von den sogenannten einfachen Mitgliedern".
Vorsitz an der Kandare
Diese Distanz, erklärt Ennser-Jedenastik, führe oftmals zu Forderungen nach Mitbestimmung. "Je mehr Mitbestimmung, desto weniger Spielraum an der Spitze. Direkte Mitbestimmung heißt, dass die Mitglieder den Parteivorsitz an die Kandare nehmen können." Sowohl Babler als auch Doskozil wollen also Macht abgeben, wenn sie versprechen, Mitglieder künftig über den Parteivorstand oder Koalitionsabkommen abstimmen lassen zu wollen.
Einschneidende organisatorische Veränderungen führte die SPÖ vor rund 20 Jahren durch. Um die Parteischulden abzubauen, stellte die Bundespartei die Bezahlung der neun Landesparteisekretäre ein, die sodann von den Landesorganisationen entlohnt wurden. "Natürlich war damit ein Machtverlust der Bundespartei verbunden und war man im Bund auch von Informationsflüssen öfter abgeschnitten", erklärt Filzmaier. "Die SPÖ hat im Vergleich zur ÖVP immer zentralistischere Strukturen gehabt", sagt Ennser-Jedenastik. Als sie nach 30 Jahren als Kanzlerpartei im Jahr 2000 in Opposition ging, "hat man plötzlich in Salzburg und der Steiermark Landeswahlen gewonnen und stellte dort neben Wien und dem Burgenland den Landeshauptmann. Der Bundespartei hat ein Regierungsamt gefehlt, das hat das Gewicht in Richtung Länder verschoben." Und die Landesparteien ließen im Jahr 2016 auch ihre Muskeln spielen. Weil fünf zusammenfanden, um gemäß Statut einen Sonderparteitag zu beantragen, trat Werner Faymann als Kanzler und Parteichef zurück.
Bis auf ein paar Lücken im ländlichen Raum (und da vor allem im Westen) kann die SPÖ zudem auf Ortsparteien, Sektionen und Teilorganisationen bauen. Sie entsenden auch alle Delegierte zum Parteitag. Diese Struktur kann durchaus von Vorteil sein. Neos und Grünen bedauerten bei ihren Niederlagen in Salzburg beziehungsweise Kärnten, dass sie in zu wenigen Gemeinden organisierte Mitglieder haben.
"Natürlich ist das in der Theorie ein großer Wettbewerbsvorteil", sagt Filzmaier. "Weil für andere - relativ neue und junge - Parteien ist es leichter möglich, bei einer Wahl aufgrund der aktuellen Stimmungslage in den Nationalrat zu kommen, als sich in allen Ländern und Teilbereichen der Gesellschaft zu etablieren."
Auch Ennser-Jedenastik sieht durch die Verwurzelung bis in die kleinste Gemeinde Vorteile für die ehemaligen Großparteien. "Das hat stabilisierende Wirkung, wenn ich vor Ort Leute habe, die man kennt." Vom Organisationsgrad auf das Wahlergebnis schließen, könne man aber nicht, meinen beide Politikwissenschafter. So sei die FPÖ zwar in Oberösterreich, Kärnten und Salzburg gut strukturiert, habe aber zum Beispiel in Niederösterreich in nicht einmal der Hälfte der Gemeinden Ortsgruppen. Dennoch lag die Partei zuletzt bei Sonntagsfragen konstant auf Platz eins und feierte in Niederösterreich einen großen Wahlerfolg.