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Die Küche von Kupiansk

Von Thomas Seifert aus Kupiansk

Politik

Freiwillige Helfer kochen für die Menschen in den Kampfgebieten warme Mahlzeiten. Alexei Lomsky ist einer von ihnen.


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Es wird geschnitten und gehackt, geschmort, gebraten und gekocht. Aus riesigen Töpfen steigt Dampf auf, es riecht nach faschierten Fleischbällchen, Fisch, gekochtem Gemüse und Kartoffelpüree. In der Großküche der ukrainischen Hilfsorganisation "Myrne Nebo" ("Friedlicher Himmel") in Kupiansk herrscht geschäftiges Treiben, es werden hier gerade tausende Mahlzeiten vorbereitet. Kupiansk war eine der ersten ukrainischen Städte, die gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 fielen: Von 27. Februar bis 10. September 2022 war die Stadt in russischer Hand. Kupiansk - ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt - zählte vor dem russischen Angriff rund 30.000 Einwohner, heute sind nur mehr rund 12.000 Einwohner in der Stadt.

Die Stadt ist heute weitgehend ohne Strom und fließendes Wasser, der Krieg hat tiefe Narben im Stadtbild von Kupiansk hinterlassen: zerstörte Brücken, zerschossene Häuser, zerbombte Fabriken, ausgebrannte Autowracks. Doch für die Bewohnerinnen und Bewohner von Kupiansk ist der Krieg nicht überstanden: Panzerfahrzeuge und Grad-Raketenwerfer der ukrainischen Armee fahren durch die Straßen, in der ganzen Stadt ist Gefechtslärm zu hören. Kein Wunder, die russischen Stellungen sind keine zehn Kilometer entfernt, die Stadt liegt unter Dauerbeschuss russischer Truppen. Bei der Fahrt in die Stadt hat Alexei auf das Ortsschild hingewiesen: Jemand hat zwei Buchstaben herausgebrochen, statt "Kupiansk Rayon" steht dort nun "Kupiansk Ray" - Ray bedeutetet im Ukrainischen Paradies, also "Kupiansk Paradies". "Sehen Sie, die Leute hier haben Humor", meint Alexei Lomsky lakonisch.

Lomsky ist einer der Gründer der Hilfsorganisation "Myrne Nebo". Vor dem Krieg - besser vor diesem Krieg, denn Russland hat ja bereits im Jahr 2014 die Krim und Teile des Donbass annektiert -war er erfolgreicher Betreiber einer Pizzeria, eines Restaurants und eines Clubs in einem der größten Einkaufszentren von Charkiw. Für Lomsky war es bereits das zweite Mal, dass er sich in den Dienst der Armee stellte: Schon im Jahr 2014 fand er sich entlang der Frontlinie im Abwehrkampf der ukrainischen Armee gegen die russischen Angreifer wieder. Er tat, was damals viele Ukrainerinnen und Ukrainer machten: Er versuchte Ausrüstungsgegenstände, Essen, Waffen und Munition für die ukrainischen Soldaten zu ergattern und zur Truppe zu bringen. Fünf Monate stellte er sich selbst in den Dienst der Armee, fuhr zum Flughafen von Kramatorsk - damals das Hauptquartier bei der Verteidigung des Donbass - und lieferte Essensrationen, transportierte Gerät und Nachschubgüter und Soldaten.

Als sich die Lage nach den ersten Monaten beruhigte, widmete er sich wieder seinen Restaurants. "Ich hatte beschlossen, mich nun um meine Geschäfte zu kümmern und war davon überzeugt, dass das Militär mich nie wiedersehen würde", sagt Lomsky.

Doch dann kam der Angriff Russlands am 24. Februar 2022. Zuerst brachte er seine Kinder in einen Luftschutzkeller der nahegelegenen Feuerwache. Dann begann er in einer seiner Großküchen Mahlzeiten für Zivilisten und Soldaten zuzubereiten. Die in einer Shoppingmall im umkämpften Stadtteil von Charkiw gelegene Großküche, die bislang neben dem Restaurant auch einen Kindergarten belieferte, wurde rasch zu einer Feldküche umfunktioniert.

Jeden Tag kamen die Verteidiger der Stadt ins Restaurant und wurden verpflegt. Bald hat sich herumgesprochen, dass Alexei und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die halbe Nachbarschaft verköstigen und es begannen immer mehr Menschen im Restaurant anzurufen, die sich aus Angst vor den immer heftiger werdenden Bombardements in ihre Keller zurückgezogen hatten. Immer mehr Supermärkte waren geschlossen und es wurde immer schwieriger für die Menschen in Charkiw, an Essen zu kommen.

Für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei die Arbeit rasch zu einem zentralen Element ihres Lebens geworden: "Es ist so viel besser, etwas zu tun zu haben und Menschen helfen zu können, als hilflos in einem Schutzkeller zu sitzen", sagt Lomsky.

Während seine Köche in der Küche arbeiteten, fuhr er durch die Stadt und suchte überall nach Lebensmitteln und Nahrung.

Alexei Lomsky erzählt mit einem nostalgischen Unterton in seiner Stimme von seinem Leben vor dem 24. Februar 2022 in Charkiw: Vob seinem Restaurant "Nebo - Himmel" in der Dafy-Shoppingmall und von der Strandbar im Hydropark, wo man im Sommer am Strand eines Sees mitten in der Stadt Cola, Limo oder Bier genießen und der Hitze der Stadt entfliehen konnte.

Intensive Angriffe auf Kupiansk

Früher freute er sich, seinen Gästen unbeschwertes Sommervergnügen zu bereiten, heute geht es für jene, die seine Essensrationen erhalten, ums nackte Überleben. In der Küche von Kupiansk wird Nudelsuppe mit einem überdimensionalen Schöpflöffel aus einem großen Topf in ein Plastikgeschirr gegossen, Kartoffelpüree und ein paar Stücke Fisch kommen in ein zweites Geschirr. Für die Menschen, die sich in Kupiansk Essen aus Alexeis Suppenküche holen, ist dieses Essen die einzige Chance auf eine warme Mahlzeit, denn die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt haben kaum eine Möglichkeit, warmes Essen zuzubereiten.

Auch für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei das keine triviale Aufgabe, sagt Alexei. Denn die Verwendung von Gasflaschen zum Betrieb der Öfen komme aufgrund des ständigen Raketen-, Artillerie- und Granatenbeschusses nicht in Frage. "Bei einem Treffer würden uns neben der Granate und dem Schrapnell auch noch die Gasflaschen um die Ohren fliegen", sagt Alexei. Daher kämen nur leistungsfähige Generatoren als Energielieferanten in Frage.

Zuletzt sei die Lage in Kupiansk wieder gefährlicher geworden, sagt Alexei. Das deckt sich mit den Meldungen der Nachrichtenagenturen: Russische Angriffe an der Front haben zuletzt an Intensität zugenommen, Kupiansk in der Region Charkiw und Lyman, Bachmut, Adwijika, Schachtarsk und Wuheldar in der Region Donezk seien angegriffen worden. Die Lage in Bachmut wird als "äußerst angespannt" geschildert.

Nach seinem Rundgang durch die Küche kostet Alexei das Essen, das seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zubereitet haben. Er wirkt zufrieden, das Essen schmecke ausgezeichnet, sagt er. Er holt sein Handy hervor und scrollt gedankenverloren durch seine auf Bildern festgehaltenen Erinnerungen: Alexei mit seiner Tochter und mit seinem Sohn, auf einem weiteren Bild ist er in der Uniform der ukrainischen Armee zu sehen, der Schriftzug "Kupiansk" ist in den Farben der russischen Flagge gemalt, aber Alexei und seine Kameraden haben bereits wieder die ukrainische Fahne an dem Ortsschild angebracht. Zum Jahresbeginn hat er seinen Sohn und seine Tochter in der Westukraine getroffen und sie haben dort zehn Tage gemeinsam verbracht. Seine beiden Kinder gehen in ein Internat in Graz, das ist auch der Grund, warum Alexei sich Österreich in besonderer Weise verbunden fühlt.

Der Krieg habe ihn verändert, sagt er, noch nie sei Familie so wichtig für ihn gewesen und Geld habe nun für ihn eine andere Bedeutung. "Was ich heute mache, erfüllt mich mehr, als das Geldverdienen von gestern", sagt Alexei. "Der Krieg hat mir vieles genommen, aber mir auch etwas gegeben: Mein Charakter wurde gestärkt und ich weiß heute, was wirklich wichtig ist."

Mitarbeit: Alex Babenko