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"Die Kultur gegen Aggression verteidigen"

Von Stefan Beig

Wissen

Diktatoren leiden oft an Narzissmus. | Weniger Störungen in traditionellen Familien | Wiener Zeitung:War Ihre Kindheit in Wien prägend für Ihr späteres Leben? | Otto F. Kernberg: Selbstverständlich. Ich hatte sehr gute und sehr schlechte Erfahrungen. Bis heute liebe ich die deutsche Sprache und Kultur und die österreichische Küche. Traumatisch war hingegen die Hetze gegen Juden unter den Nazis. Ich sah Hitler persönlich auf dem Weg zum Heldenplatz. Ich habe nie mehr wieder so eine Begeisterung gesehen.


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Haben diese Erfahrungen Ihre spätere Arbeit beeinflusst?

Absolut. Es ist der Ursprung meines Interesses an Massenpsychologie und Totalitarismus. Vor 100 Jahren sah es so aus, als würde uns eine Epoche des Friedens erwarten. Heute erkennen wir, wie Recht Freud damit hatte, dass unter der dünnen Schicht der Zivilisation die Gefahr von primitiven Aggressionen in Individuen ruht, gegen die wir die Kultur verteidigen müssen.

Sind gewisse Krankheitsbilder charakteristisch für Diktatoren?

An der Spitze besonders unmenschlicher Diktaturen stehen oft Menschen mit dem Syndrom des bösartigen Narzissmus. Diese Störung weist vier Charakteristika auf: pathologischen Narzissmus, schwere paranoide Züge, ich-syntone Aggressivität und antisoziales Verhalten. Hitler und Stalin hatten diese Persönlichkeitsstruktur, Mussolini und Franco nicht.

Können Sie dies am Beispiel Hitlers erläutern?

Da ist zunächst seine Sicherheit der eigenen Grandiosität, die zuerst zum Aufstieg, später in den Abgrund führte. Weiters hatte Hitler einen paranoiden Judenhass, der ein fundamentaler Aspekt seines Lebens war. Seine ich-syntone Aggression zeigte sich im Massenmord an den Juden und der sinnlosen Zerstörung von Städten und Menschen. Hitler war nicht verrückt, er war kein Psychopath. Er hatte die gleiche Persönlichkeitsstruktur wie Stalin. Es ist unglaublich, wie ähnlich sich die beiden waren. Über ihre Kindheit wissen wir nur wenig. Kindheitserlebnisse sind sehr subjektiv.

Führen traumatische Kindheitserfahrungen immer zu Persönlichkeitsstörungen?

Ja, das ist empirisch belegt. Anhaltender sexueller und physischer Missbrauch, das Beiwohnen bei solchen Missbräuchen und Chaos in frühen Familienbeziehungen haben traumatische Effekte.

Fördern bestimmte soziale Zustände das Entstehen solcher Störungen?

In den USA nehmen schwere Persönlichkeitsstörungen in Großstadtzentren zu. Studien zeigen mehrere Faktoren: Armut, hohe Bevölkerungsdichte, rassistische Verfolgung, elternlose Kinder. Bei arbeitslosen schwarzen Familien aus dem Süden, die in die Großstädte im Norden ziehen, bricht oft ein Chaos mit pathologischen Folgen aus. In traditionellen Familienstrukturen bleiben Störungen meist unter Kontrolle. Erst wenn sich die Strukturen auflösen, wird die Pathologie sichtbar. Persönlichkeitsstörungen entstehen oft in der Kindheit, zeigen sich aber erst, wenn Menschen auf sich alleine gestellt sind.

Lässt sich der Unterschied zwischen gesund und krank klar bestimmen?

Bei einer schweren Persönlichkeitsstörung treten Angstzustände, Depressionen, sexuelle Hemmungen oder Arbeitshemmungen auf. Es gibt drei zentrale Lebensbereiche: das Erhalten stabiler Liebesbeziehungen, effektive Ausübung des Berufs und ein zufrieden stellendes soziales Leben. Dauerhaftes Versagen in einem dieser Bereiche ist ein sicheres Indiz für Krankheit.

Anmerkung der Redaktion: Krankhafter Narzissmus bedeutet, andere Menschen nur zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung zu benützen. Ich-syntone Aggressivität ist suchthaftes und lustvolles Erleben von Aggressionsausbrüchen, um andere Personen zu demütigen.Zur Person

Otto F. Kernberg, 1928 in Wien geboren, ist einer der bedeutendsten amerikanischen Psychoanalytiker. 1939 floh er mit seinen jüdischen Eltern nach Chile, wo er später Biologie, Medizin, Psychoanalyse und Psychiatrie studierte. Kernberg ist Professor für Psychiatrie am Medical Colege der New Yorker Cornell University. Er befasste sich besonders mit Narzissmus, Persönlichkeitsstörungen und dem Borderline-Syndrom.