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Wenn der Regisseur weiß, was der Autor eigentlich hätte schreiben wollen oder, politisch korrekt, hätte schreiben sollen, nennt man das "Regietheater". Einen solchen akuten Fall von Regietheater, oder eigentlich Regietheaterismus, muss in Florenz Georges Bizets Oper "Carmen" über sich ergehen lassen. In Leo Muscatos Regie, die im Teatro del Maggio Musicale Fiorentino diesen Samstag Premiere hat, wird nicht etwa Carmen von Don José ermordet, sondern die Fabriksarbeiterin knallt den abgehalfterten Ex-Soldaten ab.
Der Regietheaterismus hat Werken schon Schlimmeres angetan, was soll also die Aufregung? - Die Pikanterie ist der Zusammenhang. Die Idee zu diesem Finale hatte nicht etwa Muscato, sondern Cristiano Chiarot, Intendant des Florentiner Theaters. Er dekretierte laut der römischen Tageszeitung "La Repubblica": "In einer Zeit, in der die Plage der Frauenmorde akut ist, wie kann man bei der Ermordung einer Frau klatschen?"
Dieses Argument hat eine bestechende Logik. Ich übertrage es einmal auf die Malerei: Jedes Jahr sterben etwa 100.000 Menschen an Schlangenbissen. Ist es da noch legitim, Caravaggios Medusenhaupt zu zeigen? Und wer meißelt endlich die Schlangen aus der Laokoon-Gruppe weg?
Die wirkliche Absurdität an dem "Carmen"-Fall ist indessen eine andere: Das neue Finale ist keine künstlerische Entscheidung, sondern eine gesellschaftspolitische. Mit gesellschaftspolitischen Entscheidungen begründeten freilich auch alle Diktaturen ihre Gängelungen der Kunst. Steuern wir auf eine Diktatur der politischen Korrektheit zu? Oder sind wir gar schon mitten drin?