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Die Kunst des Luftholens

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

Der Atem begleitet uns durch unser gesamtes Leben. Trotzdem wird die Fähigkeit, frei und tief ein- und auszuatmen vom Alltagsstress und anderen Faktoren beeinträchtigt. Richtig atmen kann gelernt werden.


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Unter Wasser kann man den Atem sogar sehen . . .
© John Smith/Corbis

Wenn wir auf die Welt kommen, ist es das Allererste, was wir tun, und es ist auch das Allerletzte, bevor wir sie wieder verlassen. Wir tun es alle und wir tun es ständig, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, weil es so selbstverständlich zum Leben dazugehört: Atmen. Ein Erwachsener atmet pro Minute zwölfmal, ein Kind etwa 20-mal und ein Neugeborenes bis zu 40-mal. Bis zu fünf Millionen Kubikmeter Luft füllt der Mensch im Laufe seines Lebens auf diese Weise in seine Lungen. Wohl können wir eine Weile ohne Essen und Trinken auskommen, aber ohne zu atmen nur wenige Minuten. Höchste Zeit also für ein kleines Lob des Atems, an den wir uns häufig erst dann erinnern, wenn er nicht mehr optimal funktioniert.

So wie bei Linda Stone, die eines Morgens ihr E-Mail-Postfach sichtet, in dem sich nichts Ungewöhnliches befindet außer der alltäglichen Flut von Mails. Doch die Amerikanerin fühlt sich gestresst und registriert plötzlich ganz deutlich, dass ihr regelrecht der Atem stockt. Einmal darauf aufmerksam geworden, fällt es Linda Stone wiederholt auf, dass sie beim Checken ihrer E-Mails die Luft anhält. Weil ihr das Thema keine Ruhe lässt, will sie wissen, "wie weit verbreitet das Phänomen der E-Mail-Apnoe" ist, also das unbewusste Aussetzen oder Anhalten der stetigen Atmung.

"Total verkrampft"

Stone, früher Managerin bei Apple und Microsoft, beginnt, unauffällig Körperhaltung und Atemmuster der Menschen in ihrer Umgebung zu beobachten. Und sie stellt fest: "Die überwältigende Mehrheit der Leute sitzt meist total verkrampft vor dem Bildschirm, mit vorgestreckten Armen und Schultern, eingefallener Brust und hält die Luft an oder atmet nur sehr flach."

Nun sind uns Bilder von Menschen, die wie gebannt auf ihre Smartphones oder Laptops starren, durchaus vertraut. Schließlich ist der digitale Mensch deutlich verfügbarer als früher. Umfragen zufolge checken immer mehr Menschen schon auf dem Weg zur Arbeit atemlos ihre Mails, wenn sie dies nicht bereits beim Zähneputzen erledigt haben.

Zwar werten manche die ständige Verfügbarkeit als Zeichen von Freiheit - schließlich ist die globale Welt leichter zugänglich geworden -, zugleich versuchen aber viele, immer mehr in ihre Lebenszeit hineinzupacken, wohl wissend, dass Entschleunigung zu den größten Herausforderungen unserer Zeit zählt.

Wie jedoch die Neubelebung der vita contemplativa genau vonstatten gehen soll, davon haben wir keine Ahnung. Gerade deshalb sind die Beobachtungen von Linda Stone im Hinblick auf den Atem als Spiegel der Gesellschaft so spannend, zeigen sie doch, dass der Schlüssel für unsere Sehnsucht nach Muße und weniger Tempo sehr, sehr nahe ist: Weil uns "modernen Menschen das Flachatmen zur zweiten Natur" geworden ist, wie es der Philosoph Wilhelm Schmid beschreibt, ist uns nicht mehr bewusst, dass wir das Heilmittel in uns tragen.

Nun möchte gewiss niemand zu den "Flachatmern" zählen, allein die Vorsilbe des Begriffs weckt unschöne Assoziationen an verwandt klingende Wörter, erst recht nicht, wenn der Freiburger Atem- und Körperpsychotherapeut Stefan Bischof aufzählt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn wir nicht "vollatmen": Körperlich zählen dazu Symptome wie Anfälligkeit für Infekte, Verdauungsbeschwerden, Müdigkeit, Schlafstörungen, Herzkreislaufprobleme und in seelischer Hinsicht drohen unter anderem mangelndes Selbstwertgefühl sowie Ängstlichkeit. Atmen, erklärt der gebürtige Schweizer, "ist der unmittelbare Ausdruck unserer gegenwärtigen Verfassung, körperlich wie auch seelisch".

Diese uns offenbar abhanden gekommene Kultur des Luftholens - die alten Griechen etwa sahen im Zwerchfell, dem Hauptatemmuskel, den Sitz der Seele -, scheint sich in fernöstlichen Disziplinen bis zum heutigen Tag eher erhalten zu haben. Eine Ahnung von der Alltäglichkeit, mit der in Asien der Atem bewusst praktiziert wird, bekommt man, wenn man chinesische Touristen beobachtet. Wenn diese bei ihren Express-Touren durch Europa an Tankstellen eine kurze Rast einlegen, strömen ganze Busladungen dorthin, wo sich gerade ein freies Plätzchen ergibt, und beginnen, mittels Tai-Chi- oder Qi Gong-Übungen Lebenskraft zu tanken.

Möglicherweise inspiriert von diesem fernöstlichen Selbstverständnis bieten Atemtherapeuten etwa in Berlin und München Aktionen wie "Atmen im Park" an, ein bei uns nach wie vor ungewöhnlicher Anblick, der gern als "Eso-Kram" belächelt wird. Beobachtet man Atemtherapeuten in Aktion, wirkt das wie eine Mischung aus Tai-Chi, Meditation und modernem Tanz. "Ganz bewusst geht es darum", erklärt Stefan Bischof, "den Atem kommen zu lassen, ohne ihn willentlich zu beeinflussen." Den Atem zuzulassen, sagt der 64-Jährige, mache die so genannte "Lehre des Erfahrbaren Atems" aus. Während beim Yoga der Atem bewusst eingesetzt wird, bringt Bischof Menschen in Einzelstunden oder Gruppenseminaren bei, sich vom Atem führen zu lassen. In seine Praxis kommen häufig Menschen, die vom Arzt geschickt werden, weil sie lernen sollen, "richtig" zu atmen.

Atemräume im Körper

Die Psychotherapeutin Christl Lieben empfiehlt, den gesamten Körper "durchzuatmen".
© Josef Polleross

Mit der Schulmedizin hat die Atemtherapie allerdings nicht viel zu tun; sie wird zu den alternativen Heilverfahren gerechnet. Mediziner empfehlen Atemtraining durchaus, etwa bei Migräne, Asthma und Erschöpfungszuständen. Die Übungen zielen darauf ab, verschiedene Atemräume im Körper zugänglich und erlebbar zu machen - durch das ebenso simple wie anspruchsvolle Grundprinzip: den Atem kommen lassen, den Atem gehen lassen und warten, bis der nächste kommt. Zwar gelangt die Luft mit jedem Atemzug immer nur bis in die Lungen, aber die Atembewegung lässt sich gleichwohl gezielt in die unterschiedlichsten Teile unseres Körpers leiten, selbst bis in die Fingerspitzen. Dazu reicht es zum Beispiel, die Fingerkuppen so aufeinanderzulegen, wie es bei Bundeskanzlerin Merkel auf unzähligen Fotos zu sehen ist, selbst wenn sie damit aller Wahrscheinlichkeit nach keine Atemübung praktiziert. Richtet man bei dieser gebetsähnlichen Haltung die Aufmerksamkeit bewusst auf die Fingerspitzen, lässt sich die Atembewegung bis dorthin verfolgen - der Atem folgt nämlich stets der Aufmerksamkeit.

Geist und Leib

Die Atemtherapeuten gehen davon aus, dass der Atem am intensivsten unter allen Körperfunktionen Geist und Leib miteinander verbindet, die beiden Sphären also, deren Trennung René Descartes im 17. Jahrhundert postulierte, mit Folgen, die noch immer spürbar sind. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts wissen zweifellos immer mehr über unseren Körper, gehen in Fitness-Studios, praktizieren Yoga und laden uns Achtsamkeit-Apps herunter - häufig jedoch nur, wie die Wiener Psychotherapeutin Christl Lieben beklagt, um unser Leistungsvermögen noch mehr zu steigern, und ohne dabei zu spüren, dass "wir unseren Geist überfordern und den Leib tyrannisieren".

Die 77-Jährige fordert ein radikales Umdenken, das dem Körper "einen völlig anderen Respekt" entgegen bringt. Letztlich müsse "der Geist sogar dem Körper folgen, nicht umgekehrt", konstatiert Christl Lieben, die freimütig eingesteht, als Folge von permanenter Überforderung selbst in die Volkskrankheit Burn-out geschlittert zu sein. Die Schulung des Atems und damit die des kontemplativen Verweilens biete die Möglichkeit, einen neuen Lebensrhythmus mit einem veränderten Zeitgefühl zu erzeugen. "Notwendig dafür ist nur eine Verlangsamung und eine kleine, jedoch tiefe Geste der Zuwendung zu sich selbst", betont die Wienerin - was nur deshalb anspruchsvoll sei, weil es in unserem Lebenskanon nicht vorkomme.

Für den Alltag empfiehlt Christl Lieben eine kleine Übung im Liegen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit nach innen, zum Ende des Steißbeins. Dann solle man sich vorstellen, wie es dort "warm, hell und weit" werde und mit diesem Ansatz den gesamten Körper Schritt für Schritt durchwandern und "durchatmen". Zur Begründung, warum gerade das Steißbeinende so zentral sei, verweist die Psychotherapeutin auf das Prinzip der "dicken Weiberl", der Holzpuppen, also, die dank ihrer Bleibasis immer wieder in die aufrechte Lage finden. Bekannt sind diese Figuren auch unter dem Namen "Stehaufmännchen", und interessanterweise bezeichnet man mit diesem Begriff auch Menschen, die scheinbar aus jeder Lage wieder aufstehen.

Psychologen nennen dieses Phänomen der psychischen Widerstandskraft übrigens "Resilienz" und behaupten, dass sich diese Fähigkeit erlernen lasse. So macht die Forderung der Wienerin nach einem neu ausgerichteten Körper-Geist-System durchaus Sinn.

Erlebbar wird dank der Atemübungen das, was die Kommunikationswissenschafterin Miriam Meckel als "Eigenzeit", im Gegensatz zur "Weltzeit", beschrieben hat. Meckel, die rasend schnell Karriere machte und ebenfalls einen Burn-out erlitt, den sie in ihrem Buch "Briefe an mein eigenes Leben" literarisch verarbeitet hat, beschreibt diese andere Zeit so: "In der Eigenzeit empfinden wir Zeit immer in Relation zu uns selbst. Wenn wir innerhalb unseres individuellen Gravitationsfeldes bleiben, darf sich die Zeit dehnen, ja sie muss es sogar."

Glücklicherweise gelingt es jedoch nach wie vor vielen Menschen, ohne Burn-out durchs Leben zu kommen. Zudem gibt es neben den Flachatmern zweifellos jede Menge Normal-Atmer, ganz zu schweigen von all den Profi-Atmern etwa im Sport oder in der Musikbranche. So kostbar der Atem also sei, merkt Christl Lieben kritisch an, deren Stimme in Färbung, Klarheit und Schönheit an die Schauspielerin Senta Berger erinnert, von den Atemtherapeuten werde der Atem mitunter gerne auch überschätzt.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, als Coach und Trainerin für Deutsch als Fremdsprache in München.

Literatur:
Christl Lieben/Christa Renoldner: Verzeihung, sind Sie mein Körper? Kösel Verlag, München 2011.
Stefan Bischof u.a.: "Atem der ich bin", Selbstverlag 2012.
Christina Berndt: Resilienz, dtv-Verlag, München 2013.

http://twitter.com/LindaStone.