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Die Kunst des Mittelmaßes

Von John Casti

© Sergey Nivens/Fotolia.com

Für Nationen, Städte und Unternehmen gilt nicht das Motto "small is beautiful" - die Kunst ihres langfristigen | Überlebens basiert auf dem Prinzip "nicht zu groß, aber auch nicht zu klein".


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Wien. Im Jahre 1973 veröffentlichte der britische Ökonom E. F. Schumacher den Bestseller "Small is Beautiful" (Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik). Dieses kurzgefasste Buch äußert scharfe Kritik an den westlichen Wirtschaftssystemen und erhebt die Forderung nach sogenannten "angemessenen", dezentralisierten Technologien, die auf die Menschen abgestimmt sind, um dieses Jahrhundert überleben zu können. So eine Welt wäre nach Schumacher eine Welt, in der ein wesentlicher Rückgang des übertrieben hohen Konsums, den die Menschen zurzeit gewohnt sind, notwendig wäre, um den Kollisionskurs, auf dem sich die Menschheit in Bezug auf die unersetzbaren Ressourcen, den Klimawandel, die Trinkwasserverfügbarkeit et cetera befindet, zu revidieren.

Grenzen der Komplexität

Fünfzehn Jahre später untersuchte der amerikanische Archäologe Joseph Tainter in seinem Buch "The Collapse of Complex Societies (Der Zusammenbruch der komplexen Gesellschaften) den Zusammenbruch von Kulturen im Laufe der Geschichte. Tainters Schlussfolgerung war, dass die Ursache solcher Zusammenbrüche darin liegt, was wir heute "Komplexitätsüberlastung" nennen. Gemeint ist, dass bei jeder Gesellschaft, die mit einem Problem konfrontiert ist, die automatische Reaktion darin besteht, zu den bestehenden Strukturen noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, um das Problem zu lösen. Doch einmal ist ein Punkt erreicht, an dem die Ressourcen der Gesellschaft unter den bestehenden Strukturen vollkommen ausgeschöpft sind. Es gibt keine Ressourcen mehr, um das nächste Problem zu bewältigen, oder das übernächste. An diesem Punkt steigt die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs des Systems dramatisch an.

Man könnte die Theorien von Schumacher und Tainter als "groß ist schlecht" zusammenfassen, doch das heißt nicht, dass "klein" an sich gut ist. Im Wesentlichen wäre es genauer - wenn auch weniger effektvoll - zu sagen: "Zu groß ist schlecht und zu klein ist auch nicht gut."

Lassen Sie mich dieses allgemeine Prinzip auf drei verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Organisation veranschaulichen, nämlich am Beispiel von Ländern, Städten und Unternehmen.

Länder:

Während der letzten Jahre wurde vom Legatum Institut eine Studie über die subjektive Lebensfreude der Bevölkerung in verschiedenen Ländern veröffentlicht. In seinem Bericht über das Jahr 2013 wurde Norwegen als lebenswertestes Land angeführt, gefolgt von der Schweiz, Kanada und Schweden. Mit Ausnahme der USA (Platz 11), Deutschlands (14), des Vereinigten Königreichs (16) und Frankreichs (20) beträgt die Bevölkerungszahl in jedem der bestgereihten zwanzig Länder weniger als 20 Millionen. Also scheint die Lebensqualität in den einzelnen Ländern in direktem Zusammenhang mit der Bevölkerungszahl zu stehen. Doch dieser Zusammenhang ist nicht ganz korrekt, da zu den in Bezug auf Lebensqualität am untersten gereihten Ländern extrem arme Regionen in Afrika, sowie Haiti und Afghanistan gehören - allesamt haben unter 20 Millionen Einwohner. Doch gehören viele der größten Länder der Welt wie Pakistan, Nigeria und Äthiopien zu den 30 letztgereihten Ländern. Also gilt auch hier wieder die Faustregel "groß ist schlecht".

Städte:

Jedes Jahr reiht der Mercer Quality of Living Survey 221 Städte der Welt nach der allgemeinen Lebensqualität ihrer Bewohner. Diese Umfrage beruht auf 39 Faktoren, die tatsächlich messbar sind, wie zum Beispiel politische Stabilität, Wirtschaftsleistung, Umweltqualität und persönliche Sicherheit in Kombination mit Gesundheit, Ausbildung, Verkehr und anderen öffentlichen Dienstleistungen. Während der letzten Jahre war Wien an erster Stelle, dicht gefolgt von Zürich, Genf, Vancouver und Auckland. Doch was von viel größerem Interesse ist als die spezifische Reihung an sich ist die Tatsache, dass die besten 30 Städte in Westeuropa, Kanada, Australien oder Neuseeland liegen. Nicht eine einzige Stadt in Asien, Südamerika, Afrika oder auch in den USA fällt unter die Top 30 (die höchstgereihte Stadt der USA ist Honolulu auf Platz 32). Was ist der Grund dafür? Was haben diese lebenswerten Städte, das die anderen nicht haben?

Die einfache Antwort lautet: Diese Städte bieten allen Einwohnern - und nicht nur dem obersten einen Prozent der Bevölkerung - ein breites Spektrum an sozialen Leistungen sowie eine gut funktionierende Infrastruktur auf hohem Niveau. Bei tieferer Betrachtung zeigt sich, dass - mit Ausnahme von vier Städten - die Top 30 eine Bevölkerungszahl von eins bis zwei Millionen aufweisen. Jedoch ist nicht eine dieser vier "großen" Städte mit mehr als zwei Millionen Einwohnern unter den ersten zehn. Im Grunde besagt die Studie also, dass die Formel für den Erfolg bei der Lebensqualität darin besteht, groß genug zu sein, um der Bevölkerung eine Bandbreite von sozialen Einrichtungen bieten zu können, aber nicht so groß, dass die Komplexität der Stadt die Kapazität ihrer Infrastruktur überfordert. Kurz gesagt, groß ist schlecht, aber zu klein ist auch nicht besonders attraktiv.

Unternehmen:

Aufschlussreich ist auch die vom "Forbes Magazine" für das Jahr 2012 veröffentlichte Liste der 500 einkommensmäßiggrößten Unternehmen Amerikas. Dort zeigt sich, dass von den 20 erstgereihten Unternehmen- nach Aktionärsanteil prozentuell zum Gesamterlös - nur sieben Firmen unter den 100 größten Unternehmen waren. Die durchschnittliche Reihung der ersten 20 Unternehmen in Bezug auf die Gewinnbeteiligung ihrer Eigentümer lag auf der Forbes-Liste auf Position 198. Kurz gesagt schütteten kleinere Unternehmen, hauptsächlich jene, die in der Mitte der höchsten 500 angesiedelt waren, einen viel größeren Anteil ihres Einkommens an ihre Aktionäre aus als die großen. Also gilt auch für den Finanz- und Geschäftsbereich, dass groß schlecht, klein aber auch nicht besonders erfolgversprechend ist.

Schrumpfen oder sterben

Die gleiche Schlussfolgerung kann auch für andere Gebiete des täglichen Lebens aufgestellt werden. In jedem Fall ist Wachstum (wachsende Komplexität) ein definitiver Vorteil - bis es schließlich des Guten zu viel wird. An diesem Punkt besteht für den "Organismus", ob Stadt, Land oder Unternehmen, die Gefahr, in Verfall zu geraten. Dann liegt der einzige Weg zum Überleben darin, das richtige Maß zu finden. Wie dies in einer praktischen, intelligenten Weise bewerkstelligt werden kann, ist dabei die wesentliche Frage, denn Maßlosigkeit ist eine menschliche Schwäche. Doch wenn die Komplexität zu groß wird, ist weiteres Wachstum definitiv nicht der richtige Weg. Die Devise lautet also offensichtlich: "schrumpfen oder sterben".

John Casti ist Mathematiker, arbeitete für
die RAND Corporation, die University of Arizona und das Internationale
Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxemburg. Er leitet
das X-Center in Wien und arbeitet für das X-Center in Hoboken, New
Jersey.