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Die Kunst des Schwebens

Von Martin G. Petrowsky

Reflexionen

Grete Wiesenthal verkörperte in idealer Weise die Wienerische Spielart von Anmut, Eleganz und Schönheit - eine persönliche Erinnerung an die große Tänzerin.


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"Was ist eigentlich Charme?" fragte Christiane, im damals sogenannten Backfischalter, ihre Mutter Erika Mitterer. Und diese antwortete, nach kurzem Nachdenken: "Du kennst doch die Grete Wiesenthal!"

Grete Wiesenthal, porträtiert von Erwin Lang. Abb.: Erich Reiß Verlag, 1910.

Tatsächlich wird es kaum jemanden gegeben haben, der von der sprühenden Liebenswürdigkeit und der so ansteckenden Menschenfreundlichkeit der berühmten Tänzerin nicht bezirzt worden wäre. Zeugnisse der Bewunderung, Begeisterung, Verehrung und Liebe sowohl für das junge Mädchen am Beginn seiner Karriere, als auch für die ältere Dame, die einen der letzten großen Wiener Salons betrieb, gibt es aber unzählige - z. B. von Peter Altenberg, Josef Weinheber, Felix Braun und Alfred Polgar.

Grete Wiesenthal wurde am 9. 12. 1885 in Wien geboren, sie war schon mit sieben Elevin des k.k. Hofopernballetts, 1902 wurde sie Solotänzerin. 1907 war sie Ursache eines Skandals: Der damalige Operndirektor Gustav Mahler wählte sie unter Umgehung des Ballettmeisters Josef Hassreiter für die Rolle der Fenella in der Oper "Die Stumme von Portici" aus. Die darauf folgende Demission Hassreiters wurde vom Hof abgelehnt, dafür verließ Grete Wiesenthal die Staatsoper und feierte im Jänner 1908 mit ihren ebenfalls ausgebildeten Schwestern im Cabaret-Theater "Fledermaus" einen durchschlagenden Erfolg. "Außer Tänzen zu Musik von Chopin und Beethoven waren es die von Grete gestalteten Walzer, die sofort Begeisterung hervorriefen", erinnerte sich Gunhild Schüller anlässlich einer Neuinszenierung der "Wiesenthal-Tänze" 1984 in der Staatsoper.

Moderne Tanzkunst

In der Folge begeisterten Grete, Elsa und Berta Wiesenthal auf Tourneen durch ganz Europa mit ihrem neuen Tanzstil, der bahnbrechend für die moderne Tanzkunst werden sollte, das internationale Publikum.

Natürlich nutzten die Schwestern Wiesenthal einen Trend. Um 1900 hatte die Amerikanerin Isadora Duncan auf einer Europatournee das klassische Ballett als "tot" bezeichnet und den "freien Tanz" - frei von künstlerischen und moralischen Regeln - verkündet. Das war die Geburtsstunde des "Ausdruckstanzes" gewesen. Duncan tanzte barfuß, nur mit einer losen Tunica bekleidet, und sie wollte ein neues weibliches Freiheitsgefühl vermitteln.

Doch die Wiesenthal-Schwestern waren anders als die von Duncan beeinflussten jungen Ausdruckstänzerinnen. Sie hatten eine fundierte Ballettausbildung, waren aber von der klassischen, versteinerten Ballettchoreographie enttäuscht. So nutzten sie weiterhin ihre in der Ausbildung angeeignete perfekte Körperbeherrschung, ersetzten aber die statisch anmutenden Elemente des klassischen Balletts durch eine bis dahin unbekannte tänzerische Leichtigkeit.

Grete Wiesenthal betonte selbst: "[. . .] war es für die Duncan die Vorstellung der antiken Griechenwelt, die sie zum lebendigen Tanz wieder führte, so kam ich wohl vor allem durch die Musik auf das Wesen des Tanzes und die Art, in der ich es ausdrücken wollte. Ich lebte mit der Musik der großen Musikschöpfer, sie waren die Hohenpriester meiner Jugendtage".

In seiner Einführung zum Buch "Grete Wiesenthal - Holzschnitte von Erwin Lang", dem auch die Abbildung zu diesem Beitrag entnommen ist - schreibt Oscar Bie: "Die drei Schwestern Wiesenthal sind eine Naturnotwendigkeit geworden. [. . .] Grete ist die Charakteristische. Else die Charmante. Bertha die Blühende." Und weiter: "Grete ist die Künstlerin. [. . .] Sie gehört zum Schönsten, was ich gesehen habe. [. . .] Sie ist so unstofflich und so bescheiden, fast ganz tanzende, schwebende Kunst und doch wieder so sehr Mensch in der Güte ihrer intelligenten Empfindung."

Nach ihren ersten Erfolgen in Wien arbeitete Grete Wiesenthal mit Max Reinhardt in Berlin; Hofmannsthal und Mell schrieben Pantomimen für sie. 1910 heirate sie den bildenden Künstler Erwin Lang, die Ehe sollte allerdings nur einige Jahre halten.

1913 wurde der Film "Das fremde Mädchen" nach einer Pantomime von Hofmannsthal gedreht. 1919 gründete Wiesenthal mit ihrem Tanzpartner Toni Birkmeyer ihre erste Schule in Wien. Sie gastierte bei den Salzburger Festspielen, und ihre Balletteinlage für die "Fledermaus"-Inszenierung von Max Reinhardt in Berlin setzte neue Maßstäbe. 1933 bezauberte sie das amerikanische Publikum bei einem Gastspiel gemeinsam mit Willy Fränzl.

1934 vertraute man ihr eine Meisterklasse an der Akademie für Musik und darstellende Kunst an, von 1938 bis 1951 leitete sie dort die Abteilung "Tanz". 1945 gründete sie die "Tanzgruppe Grete Wiesenthal", die bis 1956 Gastspiele in Europa, Nord- u. Südamerika absolvierte.

1985 wurde ihre Tanztechnik wieder in den Lehrplan der Ballettschule der Österreichischen Bundestheater aufgenommen; in einer großen Ausstellung in der Hermesvilla wurde ihres 100. Geburtstags gedacht.

Salon im Modenapark

Seit Anfang der Dreißigerjahre hatte Grete Wiesenthal eine komfortable Wohnung am Modenapark im dritten Bezirk in Wien; eingerichtet vom Architekten Otto Niedermoser, befand sich in der Wohnung ein riesiger Salon, der bald zu einem geistigen und gesellschaftlichen Zentrum Wiens wurde. Grete Wiesenthal pflegte auf ihrem Hausherrinnen-Lehnstuhl zu sitzen, die Gesprächsrunde um sich zu kontrollieren und alle Gäste zur Teilnahme am Gespräch zu ermutigen. Sie war befreundet mit Hofmannsthal, Franz Theodor Csokor, Max Mell, Carl Zuckmayer, Friedrich Heer, Stefan Zweig und vielen anderen bedeutenden Persönlichkeiten.

Der Salon bestand sogar im Dritten Reich. Mit Charme und demonstrativer Naivität gelang es der Wiesenthal, die regimekritische Tendenz der Soireen vor der SA zu verbergen. Und Felix Braun schrieb in seinem Nachruf auf die Tänzerin: "Wie vielen hat sie geholfen, so Franz Theodor Csokor, der sie am Tag vor seiner Flucht durch Zufall im Belvederepark traf, und auch mir, wie oft!"

Auch nach dem Krieg trafen sich die führenden Köpfe des künstlerischen und intellektuellen Wien bei Grete Wiesenthal: unter vielen anderen Carl Zuckmayer mit seiner Frau Alice Herdan und Tochter Winnetou, Michael Guttenbrunner, Rudolf Kassner, Otto Mauer, Heimito von Doderer, Käthe Gold und Erika Mitterer mit ihrem Mann Fritz Petrowsky. Christiane Tagunoff, Erika Mitterers Tochter, erinnert sich an eindrucksvolle Abendveranstaltungen am Modenapark: "Die weltberühmte Tänzerin versammelte in ihrem Salon - wohl dem letzten in Wien! - viele interessante Persönlichkeiten, vor allem Künstler, zu höchst anregenden Gesprächen. Immer wieder lasen Dichter dort ihre neuesten Werke vor, so auch Erika Mitterer unter anderem die Dramen Wähle die Welt und Wofür halten Sie mich? Ich hatte das Glück, als ganz junges Mädchen zuerst mit meinen Eltern, dann auch ohne sie, in den Kreis um diese bezaubernde, gescheite, an allem interessierte Künstlerin aufgenommen zu werden."

Grete Wiesenthal versuchte sich auch als Schriftstellerin; sie erzählte in der berührenden Autobiografie "Die ersten Schritte" (1947) von ihren Anfängen, hinterließ uns schöne Erinnerungen an Hofmannsthal und überraschte 1951 mit dem originellen, von Felix Braun aber auch als "seltsam" charakterisierten Roman "Iffi".

Nach ihrem Tod fasste Friedrich Langer in der "Wiener Zeitung" ihre Bedeutung so zusammen: "Mit ihrem Namen verbindet sich konzentriert wieder der Begriff von Wien, laut Wildgans, der Stadt der Geiger und Tänzer - und Grete Wiesenthals Wiener Tanzform hat die Welt erobert." Sie hatte Neues ohne Vorbilder geschaffen und ihre Tänze auch nicht von Folklore inspirieren lassen. Alles war bei ihr original und drang aus dem Inneren durch den Tanz nach außen. Musik und Bewegung waren für sie eine Einheit - die Rudolf-von-Laban-Schule, die sich von anderen Künsten unabhängig machen wollte und daher teilweise auch auf Musik verzichtete, war ihr völlig fremd.

"Winterschmetterling" nannte sie Reinhold Schneider in seinem letzten Buch Winter in Wien. Sie selbst lobte den Boden, auf dem ihre Kunst entstehen konnte: "Wir in Österreich haben etwas Eigenes mitgebracht, etwas auf diesem Boden Gewachsenes, den Walzer als Tanzkunstwerk."

Was ist mir, der ich sie nur als Kind und Halbwüchsiger kannte, von Grete Wiesenthal in Erinnerung geblieben? - Als ich um die 16 Jahre alt war und nur kurz "Grüß Gott" sagen durfte (die Teilnahme am Abendessen der Erwachsenen war mir noch verwehrt), fragte sie mich freundlich, wie ich denn zur Musik stünde. Verlegen meinte ich, Elvis Presley würde mir schon sehr gut gefallen, aber mit der klassischen Musik könnte ich nichts anfangen. "Ja, warum denn nicht?" fragte sie. Ich antwortete verlegen: "Die hat halt keinen Rhythmus . . ." Da erhob sich die über 70-jährige Dame, summte einen Walzer und schwebte so beschwingt und in demonstrativem Takt durch den Raum, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre. Sie lachte so herzlich und gleichzeitig so wohlwollend und fragte: "Das soll keinen Rhythmus haben?"

Dieses Lachen, das auch oft aus dem Esszimmer in unser angrenzendes Kinderzimmer drang, ist noch immer in mir und lässt mir diese wunderbare Frau ganz gegenwärtig sein.

Martin G. Petrowsky, Sohn der Schriftsellerin Erika Mitterer, ist Publizist, Geschäftsführer der "Erika Mitterer Gesellschaft" und Schriftleiter der Zeitschrift "Der literarische Zaunkönig".