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Die "Kunstruine Tacheles" ist gerettet

Von Franz Nickel, Berlin

Politik

Noch immer bleiben Berlin-Bummler, die das sanierungsträchtige ehemals jüdische Scheunenviertel, die im neuen Glanz mahnende Synagoge und die "sündige" Oranienburger Straße bis zur Einmündung in | die Friedrichstraße erlaufen haben, fasziniert stehen. Eine mächtige Kriegsruine mit ausgebrannter Fassade und offener Rückfront, abenteuerlichen Wegen ins Innere, poppiger Bemalung und anspringenden | Texten zieht Blicke und Interesse auf sich: das Kunsthaus "Tacheles".


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Dieses ehemalige Passagenkaufhaus von 1909, im Krieg mittelschwer durch Spreng- und Brandbomben beschädigt, sollte in der Wendezeit im April 1990 aufgrund eines alten Ostberliner

Magistratsbeschlusses trotz Denkmalverdacht gesprengt werden. Um das zu verhindern besetzte die Künstlerinitiative Tacheles am 13. Februar 1990 die Ruine.

Tacheles ist jiddisch und bedeutet Klartext, sich offenbaren, sich erklären, jemandem seine Meinung sagen. Die Idee entstand 1987, als sich eine Gruppe von jungen Musikern und Malern der DDR aus

Protest gegen staatliches Hineindirigieren in die künstlerische Arbeit und gegen den in Politik und Wirtschaft herrschenden Status quo den Namen Tacheles gab.

Dieser Idee schlossen sich auch Künstler aus dem Westen an. So konnten ausreichend Leute mobilisiert werden, die am 13. Februar, zwei Monate vor der geplanten Sprengung, die Ruine besetzten. Seit dem

wird das inzwischen denkmalgeschützte Gebäude von den Besetzern in Eigenleistung notdürftig instandgesetzt und zur Präsentation und Produktion von Kunst genutzt.

Anfangs unterstützten Bund, Senat und Wohnungsbaugesellschaft finanziell die Winterfestmachung und Maßnahmen zur Sicherung des Gebäudes, sodaß es gefahrlos für öffentliche Veranstaltungen und

Kunstaktionen genutzt werden konnte.

Im Laufe der Jahre entstanden auf den 8.000 Quadratmetern nutzbarer Fläche 27 Künstlerateliers plus Galeriebetrieb, ein Theatersaal, das Kino Camera, Werkstätten für Holz- und Metallbearbeitung, eine

Siebdruckwerkstatt, das Cafe Zapata sowie der multifunktionale Blaue Salon · eine existentielle Heimat für mehr als 50 Künstler.

Freilich, das sechsstöckige Haus bleibt Ruine, geprägt von "roher" Beton- und Bunkeratmosphäre, den Narben des Krieges und der Jahre. Doch Tacheles wurde zu einem international anerkannten

Gesamtkunstwerk, eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Berlins.

1994 wurden, wie überall nach der Wende, die Eigentumsverhältnisse "geklärt". Die Immobilie erhielt der Bund, die Verfügungsgewalt das Land Berlin und das Verwaltungsrecht der Kultursenat. Doch schon

seit 1993 bemühte sich die westdeutsche Immobiliengruppe Fundus um das lukrative Areal in historisch vorzüglicher Lage mitten im Zentrum in Regierungsnähe. Fundus will hier auf 30.000 Quadratmetern

das Jahannisviertel neu bebauen, Tacheles als kulturelles Aushängeschild integrieren und über eine Stiftung inhaltlich Einfluß ausüben. Aber Tacheles will autonom bleiben.

Fünf Jahre mit Räumungsdrohungen, Prozessen und Entzug der finanziellen Zuschüsse vom Senat folgten. Die Betreiber mußten ohne jede öffentliche Mark auskommen, sich gegen Mietforderungen in Höhe von

5,4 Millionen Mark und auf die Spitze getriebene Prozeßkosten wehren. Ganz Berlin und die internationale Kunstwelt nahm Anteil am Schicksal des Kunsthauses. Auch offizielle österreichische

Kulturstellen standen hilfreich zur Seite. Die letzten zwei Jahre herrschte dann zwischen Fundus und Tacheles absolute Funkstille. Der Senat hatte als Mittler total versagt.

Dieser Tage nun geschah das nicht mehr für möglich Gehaltene: Tacheles und die Fundus-Gruppe sind überraschend unter einen Hut gekommen. Der Berliner Kulturmanager Heiner Steiner schaffte das

Kunststück, zwischen den Kontrahenten erfolgreich zu vermitteln und folgende Einigung zu erzielen: Fundus vermietet das Kunsthaus zum symbolischen Preis von einer Mark für zehn Jahre an Steiner.

Dieser vermietet weiter zum gleichen Preis an Tacheles mit einer Option auf Verlängerung.

Völlige Autonomie

Tacheles wird völlige Autonomie über Gestaltung und künstlerisches Konzept zugesichert. Die Immobilienfirma wird die gesamte Sanierung und Instandsetzung des Gebäudes bezahlen, die

Verkehrssicherheit herstellen, Haustechnik installieren, den von den Nazis gefluteten zweiten Tiefkeller abpumpen, die Statik prüfen und das Dach abdichten.

Für das insgesamt 23.560 Quadratmeter große Areal zahlt Fundus 80 Millionen Mark an die Bundeskasse.

Der Tacheles-Vorstand hofft, daß die Senatskulturverwaltung die eingefrorenen 300.000 Mark jährliche Unterstützung wieder frei gibt. Die Finanzdirektion will prüfen lassen, ob man auf die Millionen

Mietforderungen verzichten kann. Tacheles scheint gerettet. Damit müßten die Voraussetzungen geschaffen sein, daß die Künstler aus dem Haus machen können, was sie immer wollten: einen national und

international anerkannten Kunstort mit besonderem Flair.