Das bretonische Städtchen Pont-Aven feiert Paul Gauguin - und auch jene Künstler, die lange in dessen Schatten standen.
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Immer diese Amerikaner. Marschieren mit ihren Rucksäcken und Ledertaschen quer durchs Gelände, postieren ihre Staffeleien an den unmöglichsten Orten und legen mit ihren Pinseln los. Um abends in den Bars einzufallen und zu feiern. "Ils sont fous." Die sind irre. Die Bewohner von Pont-Aven, einem Städtchen im Südwesten der Bretagne, lassen daran keinen Zweifel. Zumindest, wenn sie unter sich sind. Nach außen hin gibt man sich freundlich.
Wo der Fluss Aven in einen Fjord und etliche Kilometer später in den Atlantik mündet, haben sich Kaufleute und Müller bescheidenen Wohlstand erwirtschaftet. Nun tun sich neue Einkommensquellen auf: Die Fremden, die nach 1864 Unruhe stiften, bringen Geld in die Gemeinde. Wirklich reich sind die Herren mit ihren Leinwänden nicht, das bemerkt man schnell, doch in ihrem Schlepptau rücken Touristen an: ein Versprechen.
Bis heute. Pont-Aven gilt immer noch als westlichster Außenposten berühmter Künstler-Dörfer wie Barbizon, Étretat oder Céret. Die Straßen mit ihren behäbigen Steinhäusern sind pittoresk und überaus fotogen geblieben. Der Aven schlängelt sich gemächlich südwärts, an seinen Ufern sind Kähne und Barken vertäut. Die Brücken über den Fluss, die der Siedlung dereinst den Namen gegeben haben, sind mit Primeln und Hyazinthen geschmückt, selbst die Mühlen altern malerisch.
In den Gassen reihen sich Galerien und Läden aneinander. Die üblichen Reiseandenken: Fischkonserven, Pullis und Jacken im Marine-Stil und Galettes, Kekse mit Salzbutter und Karamell. In den Vitrinen der Restaurants liegen Austern, Seeschnecken und Garnelen für den Ansturm der Gourmets bereit, Riec-sur-Bélon, wo man die besonders flachen Muscheln aus dem Wasser holt, ist nur einen Katzensprung entfernt.
Polternde Gesellen
Doch wirklich berühmt ist Pont-Aven dank jener Künstler, die sich nach 1864 hier einmieteten, angelockt vom Ruf eines bretonischen Arkadiens. Sie trafen auf eine immer noch ländlich geprägte Gemeinschaft, die mit Baumaterial wie Steinen und Holz und mit Getreide, Kartoffeln und Cidre handelte. Während die Bauern ihre Felder bestellten wie eh und je, ein Alltag in gottesfürchtiger Frömmigkeit, mit Ritualen, die im Aberglauben der keltischen Kultur wurzelten.
Breite Projektionsflächen also für Menschen mit wild wuchernder Phantasie. Auf der Suche nach Sujets wanderten Maler wie Henry Bacon, der die kleine Stadt für sich entdeckt hatte, Robert Wylie und Charles Jones Way die Kais und Küste entlang, begeisterten sich für die Bretoninnen in ihren Trachten, für die verwunschenen Kapellen und den Bois d’Amour, den Wald der Liebe. In der Folge zogen sie weitere, von der Sehnsucht nach dem einfachen Leben beseelte Kollegen an. Bis schließlich eine Künstler-Kolonie entstanden war, die sich so selbstbewusst gebärdete, dass sich der Bürgermeister gezwungen sah, den Ausschank von Alkohol nach 22 Uhr zu verbieten, um das nächtliche Lärmaufkommen zu unterbinden.
Nach 1880 bricht eine neue Welle polternder Gesellen über das Dorf herein, Franzosen. Unter ihnen jenes hochkreative Genie, das Pont-Aven internationales Renommee zuspielen sollte: Paul Gauguin (1848-1903), ehedem Seemann und Börsenmakler - und jetzt pleite. Der Traum, als Maler durchzustarten, ist gescheitert, seine Bilder verkaufen sich schlecht. Also klebt er Plakate und sieht sich von Paris aus nach einem Dorf um, in dem das Leben billiger ist.
Er hört von Pont-Aven und verbringt dort 1886 den ersten von mehreren Sommern. Die Herberge von Madame Gloanec kostet nur ein paar Francs, und wenn er nicht zahlen kann, gewährt sie ihm Kredit. Beim Abendessen trifft Gauguin auf Mitstreiter, die hier nächtigen oder auch im Hotel von Julia Guillou. Hitzköpfe wie er, besessen von der Idee, endlich von den verstaubten Lehren der Akademien abzurücken und den Impressionismus zu überwinden: Émile Bernard, Paul Sérusier oder Charles Laval. Man diskutiert, trinkt und verausgabt sich in der Leidenschaft, auf Blatt und Leinwand zu einer eigenen Sprache zu finden, angeregt vom Streben nach dem Urtümlichen, Primitiven und Wilden, das man in der lokalen Volkskunst zu finden glaubt.
Pont-Aven zeigt allen, wo es langgeht - bis heute. Paul Gauguin muss für vieles seinen Kopf hinhalten. Die Ständer mit den Ansichtskarten vor den Souvenirläden sind gut bestückt mit seinen Selbstporträts, Bildern und Zeichnungen. Eine riesige Kopie des "Tanzspiels dreier bretonischer Mädchen" dominiert die Außenmauer der Feinbäckerei "Traou Mad". Dass die Blechdosen mit den Galettes à la Gauguin gestaltet sind, versteht sich von selbst. Und auch sonst hat man den wohl berühmtesten Fast-schon-Sohn der Gemeinde fest in die Arme geschlossen. Beschilderte Spaziergänge und Parcours setzen sich den Szenerien seiner Werke auf die Spur: von der Mühle Ty Meur, Schauplatz der Darstellung der "Wäscherinnen", zum Square Théodore Botrel, dem Hintergrund von "Tanz der vier Bretoninnen", und weiter in den Bois d’Amour, wo Gauguin den Kindern beim Baden im Fluss zusah.
Zukunftsperspektiven
Höhepunkt dieser Wallfahrt ist der Calvaire im Kirchhof von Nizon mit seinen in Stein gemeißelten Bibelgeschichten, wie er auf dem "Grünen Christus" zu erkennen ist. Oder die Kapelle von Trémalo, ein gotisches Kirchlein im Wald, dessen hölzernes Kruzifix Gauguin zu seinem "Gelben Christus" inspiriert hat: eines der bahnbrechendsten Werke jener Stilrichtung, die als "École de Pont-Aven" in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Breite, von dunklen Strichen oft grob konturierte und hart kontrastierende Farbflächen und Ornamente bilden die Wirklichkeit vollends verfremdet ab und verweisen auf eine symbolistisch überhöhte Welt hinter dem Offensichtlichen. Eine Absage an die akkurate und detailreiche Freilichtmalerei und zugleich Aufforderung, die Realität radikal subjektiv aus der Erinnerung heraus zu schildern und das Übersinnliche, Visionäre zu beschwören: die Geburtsstunde des Synthetismus.
Paul Gauguins berühmte Skizzen und Gemälde aus jenen Jahren sind in alle Windrichtungen zerstreut. Sie hängen in Washington, Tokio, München oder Amsterdam. Pont-Aven ging leer aus. 1985 hat man auf dem Hauptplatz das Musée des Beaux-Arts begründet, mit durchaus großen Ambitionen. Der Wermutstropfen damals: Man besaß nicht ein einziges Original von Gauguin. Bis es 2004 gelang, das Pastell "Köpfe von Bretoninnen" zu erwerben. Inzwischen - nach einem Um- und Ausbau der Räumlichkeiten im früheren Annex des Hôtel Julia - sorgt eine Kooperation mit dem Pariser Musée d’Orsay für einen soliden Bestand an Bildern von Gauguin und der "École de Pont-Aven".
Sie scheint immer noch Schule zu machen, als Ansporn oder Hoffnung. Die Dichte an Galerien, die sich entlang der Straßen aneinanderreihen, ist beachtlich. Was dort gezeigt wird, läuft unter dem Etikett "querbeet": von Epigonen im Stile Gauguins über Fotografen mit Hang zum Weichzeichnen bis hin zu Porträtisten, die ihre Modelle vorzugsweise nackt und hyperrealistisch in Szene setzen. Was bedeutet es, sein Geschick hier darzubieten, wo Touristen auf Schnäppchenjagd gehen? Zumindest der klingende Name des Ortes, an dem man sich präsentiert hat, bleibt bestechend. Pont-Aven und seine Kuratoren setzen nach wie vor auf Gauguin, doch ambitionierte Wechselausstellungen, oft in Kooperation mit arrivierten Häusern, verweisen zudem auf die Vielfalt der in der Bretagne tätigen, außerhalb der Region weniger bekannten Künstler.
Der Blick aber zieht noch in andere Richtungen: Man munkelt über einen Investor und dessen Pläne für ein Museum für zeitgenössische Kunst. Was ein jüngeres Publikum anlocken könnte. Alles noch vage, während die Schenkung eines ambitionierten Sammlers schon unter Dach und Fach ist: Yves Marmin hat dem Musée de Pont-Aven im Juli 2022 siebzig Bilder vererbt. Dazu eine Summe von mehr als einer Million Euro: Das schafft Perspektiven, auch in Sachen Tourismus. Es wird wohl fortan noch etwas enger und lauter werden in den kleinen Gassen.
Rückzug nach Pouldu
Paul Gauguin selbst hat sich davongestohlen, wenn es ihm in Pont-Aven zu lärmig zuging. Das Fischerdorf Pouldu mit seinen Dünen, Sandstränden und Klippen avancierte zu seinem Flucht- und Ruhepunkt. Im Juli 1889 quartierte er sich, begleitet von seinem Schüler Meijer de Haan und den Freunden Paul Sérusier und Charles Filiger, für etliche Monate in der Buvette de la Plage ein, einer kleinen, von Marie Henry geführten Pension: eine Art Rückzug aus der Zivilisation, wie er ihn schon in den Tropen erprobt hatte.
Als die Stürme zu kalt und heftig wurden, um draußen herumzugeistern, okkupierten Gauguin und Meijer de Haan das Innere des Häuschens und dekorierten es von Grund auf um, Wände, Fenster und Türen. Ein vor Kraft strotzendes Gesamtkunstwerk. Marie Henry, eine selbständige, emanzipierte Frau, gewährte den Malern die Freiheit, sich zu entfalten. Zugleich war sie durchaus geschäftstüchtig. Als die bunten Vögel wieder abzogen, zwang sie ihre mittellosen Schützlinge, als Garantie für ihre Schulden über hundert Bilder zurückzulassen, die meisten von Gauguin. Die Kunstwerke wurden nie mehr abgeholt.
Auch dieser Schatz ist längst verhökert, und die einstige Unterkunft in ein Hotel verwandelt. 1989 aber, hundert Jahre nach jenem exzessiven Sommer und Herbst der Künstler, wurde ein paar Häuser weiter ein Museum eröffnet, in dem man das Innere der Buvette de la Plage mit seiner Ausstattung nachstellt: Küche, Bar und Speisesaal und die schlichten Kemenaten der Gäste. Vor den Türen des Hauses erstreckt sich eine gesichtslose Badekolonie.
Die meisten Rollbalken der Ferienappartements sind noch heruntergelassen, der Frühling kündigt sich nur zögerlich und langsam an. Der Himmel hängt tief, der Wind jagt die Wolken vom Atlantik über die Küste. Kliffe und Abbrüche sind vom Nebel verschluckt, die Linien des Horizonts nur mehr ein Schemen und die Farben aus der Landschaft verschwunden. Eine helle, leere Leinwand.
Susanne Schaber lebt als Literaturkritikerin und Reiseschriftstellerin in Wien.
www.pontaven.fr