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Die lange Nacht des Terrors

Von WZ Online

Europaarchiv

Für einige Stunden befürchtete Großbritannien am Wochenende einen zweiten großen Terroranschlag: In den Pubs und Restaurants des Vergnügungsviertels von Birmingham verstummt in der Nacht auf Sonntag die Musik. Partys werden unterbrochen, Hotelgäste müssen die Zimmer verlassen. 20.000 Menschen werden evakuiert. Doch der "Blitz Spirit", den die Briten schon in London gezeigt haben, ist auch in Birmingham allgegenwärtig: Kein Rennen, kein Schreien, kein Klagen.


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Der Terrorwarnung in der englischen Stadt Birmingham lag am Samstag eine echte Bedrohung zu Grunde, sagte Polizeichef Paul Scott. Einzelheiten zur Art der Bedrohung nannte er jedoch nicht. Nach einem Terroralarm war am Samstagabend das Zentrum von Birmingham evakuiert worden.

Während des Einsatzes wurde ein verdächtiges Objekt in einem Bus kontrolliert zur Explosion gebracht, das sich jedoch als harmlos herausstellte. Scott erklärte aber, das Objekt sei nicht der Grund für die Evakuierung gewesen. Vielmehr hätten spezifische Hinweise auf eine Gefahr vorgelegen, die der Polizeichef nicht näher erläuterte, aber drastisch beschrieb: "Nie zuvor hatten wir eine solch schwere Bedrohung".

King's Cross: Erste Leichen geborgen

In London strömten am Sonntag zahlreiche Menschen in die Kirchen, um der Opfer der Anschläge vom Donnerstag zu gedenken. Die Behörden befürchteten, dass die Zahl von bislang 49 bestätigten Todesopfern noch steigen werde. Hitze, Staub und Einsturzgefahr erschwerten die Bergungsarbeiten in den U-Bahn-Tunneln. Auch die Identifizierung der bereits geborgenen Toten gestaltete sich schwierig, weil viele Leichen stark verstümmelt sind.

Am schwer zugänglichen Unglücksort von King´s Cross konnten die ersten Leichen geborgen werden. Dies berichtete das BBC-Fernsehen am Sonntag. Die Arbeit setzte den Rettungskräften zu. Die Bilder, die sich ihnen in der Tiefe boten, seien schrecklich, hieß es.

Es wird befürchtet, dass am King´s Cross noch mehr Menschen ums Leben kamen als die bisher bestätigte Zahl von 21 Toten. Auch am Sonntag war bei keinem der Todesopfer die Identität offiziell bestätigt. Namenslisten mit Opfern gab es daher noch nicht.

Die Untersuchung der Anschlagsorte ergab, dass die Bomben in den U-Bahnen fast zeitgleich detonierten und nicht, wie zunächst angenommen, binnen einer halben Stunde. Der erste Sprengsatz explodierte um 08.50 Uhr, die beiden anderen folgten innerhalb von 50 Sekunden, sagte Vizepolizeichef Brian Paddick. Dies lege den Schluss nahe, dass die Bomben über einen Zeitzünder zur Detonation gebracht worden seien. Selbstmordanschläge seien aber nicht völlig auszuschließen. Jede der Bomben wog 4,5 Kilogramm und passte in eine Tasche.

Über die Täter gab es weiter zahlreiche Spekulationen: "Sunday Times" und "Sunday Telegraph" identifizierten einen Syrer als Hauptverdächtigen. Mustafa Setmarian Nasser sei bereits an den Anschlägen in Madrid maßgeblich beteiligt gewesen. Die "Mail on Sunday" erwähnte einen weiteren Syrer, Abu Musab al Suri, der Operationschef von Al Kaida in Europa sei. Zuvor hatten mehrere Medien berichtet, die britischen Behörden fahndeten nach einem Marokkaner.

Londons Ex-Polizeichef: Die Täter waren Briten

Nach den Londoner Bombenanschlägen sind sich fast alle Experten einig, dass es sich bei den Tätern um moslemische Terroristen handelt. Heftig debattiert wurde in den britischen Medien am Wochenende dagegen, woher die Täter kamen.

Waren es einheimische Moslems ("home-grown bombers")? Der ehemalige Scotland-Yard-Chef Lord John Stevens ist davon überzeugt, dass die Terroranschläge in London von britischen Moslems verübt wurden. "Es ist nahezu sicher, dass die Terroristen in Großbritannien geboren und aufgewachsen und mit dem Leben und den Wertvorstellungen in Großbritannien völlig vertraut sind", schrieb Stevens in einem am Sonntag veröffentlichten Beitrag für die Zeitung "News of the World".

"Ja, ich habe auch gehört, dass einige Experten sagen, es könnten algerische Terroristen gewesen sein oder Marokkaner oder Angehörige anderer Nationalitäten. Aber das ist gefährliches Wunschdenken - eine schädliche Illusion."

Lord Stevens, der im Jänner pensioniert wurde, verwies darauf, dass schätzungsweise 3.000 Moslems in den afghanischen Lagern von Osama bin Laden ausgebildet worden seien. Die Zeitung "The Sunday Telegraph" berichtete dagegen, die Polizei glaube, dass die Anschläge das Werk eingereister Terroristen aus Kontinentaleuropa oder Nordafrika seien.

Diese Profis aus dem Ausland könnten bereits als Jihad-Kämpfer oder Terroristen in Kaschmir oder Tschetschenien gewesen sein. Sie seien vielleicht vorher in Ländern wie Frankreich, Spanien oder Deutschland gewesen und für die Anschläge nach London eingereist. Dabei hätten sie Unterstützung vor Ort gebraucht.

An das Werk eines Einzeltäters glaubt keiner der Experten.

Papst an Terroristen: "Hört auf, im Namen Gottes!"

Papst Benedikt XVI. hat nach den Anschlägen von London die Terroristen aufgerufen, ihre "abscheulichen Taten" zu beenden. "Hört auf, im Namen Gottes", sagte der Papst vor Zehntausenden Menschen beim Sonntagsgebet auf dem Petersplatz in Rom. "Gott liebt das Leben, er hat es geschaffen, nicht den Tod."

Alle verspürten tiefen Schmerz über die Anschläge in London, sagte Benedikt XVI. "Wir beten für die Menschen, die getötet wurden, für diejenigen, die verletzt wurden, und für ihre Angehörigen." In das Gebet würden aber auch die Attentäter eingeschlossen, "auf dass Gott ihre Herzen erreichen möge", wie der Papst sagte.