Autorin Susann Sitzler erklärt, warum die Geschwisterbeziehung für das ganze Leben prägend ist - und über problematische Familienwerte.
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"Wiener Zeitung":Bis dass der Tod euch scheidet - in einem romantischen Verhältnis ist das der Traum. Wie ist das bei Geschwistern, Frau Sitzler?Susann Sitzler: Da ist es tatsächlich die Realität. Allein schon aufgrund der meistens nicht so großen Altersunterschiede ist die Geschwisterbeziehung faktisch die längste Verbindung unseres Lebens. Geschwister wird man nicht los, selbst dann nicht, wenn man es vielleicht möchte.
Das klingt nicht nach Geschwisterliebe.
Geschwisterliebe ist nicht naturgegeben, auch wenn wir uns das vielleicht wünschen. Nüchtern betrachtet besteht der Kern dieser Beziehung in einem Zwang, denn man bekommt Geschwister ungefragt und kann ihnen nicht entkommen. Gerade in dieser Unausweichlichkeit kann aber auch enorm viel Glück und Sicherheit stecken. Das ist aber sehr individuell. Es gibt diejenigen, die man liebt, und diejenigen, mit denen man kaum etwas zu tun hätte, wenn sie nicht zufällig der eigene Bruder oder die eigene Schwester wären. Geschwisternähe würde ich daher eher als Geschenk denn als Gesetz bezeichnen.
Sie sprechen aus Erfahrung?
Ich habe mich sehr intensiv mit den Erkenntnissen und Theorien der Geschwisterforschung beschäftigt, um sie dann in Verbindung mit meinen eigenen Erfahrungen als Schwester zu bringen. Neben einer leiblichen Schwester, die zehn Jahre älter ist, habe ich zwei Stiefbrüder, mit denen ich aufgewachsen bin, und drei Halbgeschwister, die altersmäßig meine Kinder sein könnten. Ich bin in einer Patchworkkonstellation aufgewachsen, die zumindest in meiner Kindheit in den siebziger Jahren nicht der Norm entsprach.
Mit dem Thema Familie befasst man sich meistens erst dann, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Oft geht es dann um das Verhältnis zu den Eltern, das in Therapien aufgearbeitet wird.
Das ist richtig. Sehr beliebt ist ja die These: Mutti ist an allem schuld! Aber ganz im Ernst gesprochen: Fast nichts von dem, was uns in der Kindheit negativ geprägt hat, wächst sich einfach aus. Es muss meist aktiv bewältigt werden. Dabei spielt das Verhältnis zu den Eltern eine wesentliche Rolle. Seit einigen Jahren setzt sich aber in der Psychologie die Ansicht durch, dass wir dabei die Beziehung zu unseren Geschwistern unterschätzen.
Inwiefern?
Mit Geschwistern erlebt man eine prägende, enge Beziehung auf der gleichen Autoritätsstufe, während Eltern übergeordnet sind. Augenhöhe ist daher die exklusive Geschwisterperspektive. Brüder und Schwestern sind später zudem oft die einzigen Bezugspersonen, die uns wirklich seit den frühsten Jahren aus der Nähe kennen. Nach einer gemeinsamen Kindheit hat man kein Gesicht mehr voreinander zu verlieren. Insofern ist die Betriebstemperatur einer solchen Beziehung eine andere als beispielsweise zwischen Arbeitskollegen oder auch engen Freunden. Geschwister streiten oft in einer enormen Intensität. Je nachdem, wie konfliktbeladen ihre Beziehung ist, kann es darum passieren, dass man miteinander auch im Erwachsenenalter noch in diesen wütenden Kinderrollen gefangen bleibt.
Was sich beispielsweise bei Familienfesten zeigt . . .
Das ist ein klassischer Schauplatz, wo ungelöste Konflikte immer wieder aufbrechen können. Das nächste Weihnachtsfest kommt ja bald! Nicht umsonst sind die Ratgeberseiten der Frauenzeitschriften nun wieder voll mit Tipps zur Vermeidung von familiären Desastern.
Langweilig ist die liebe Familie doch nie. Gehört Stress nicht auch dazu?
Das kommt ganz darauf an, worin der Stress besteht. Reibung erzeugt Wärme, das gilt besonders in Familien. Aber oft werden wir in solchen Situationen in eine Nähe zurückgeworfen, die wir im Erwachsenenleben überwunden haben, vergleichbar etwa mit einem zu klein gewordenen Kleidungsstück. Es lohnt sich darum, einen Blick darauf zu werfen, welche Art von Gefühlen und Verhaltensmustern man mit Geschwistern gelernt hat.
Was genau lernen wir mit Geschwistern?
Wir lernen Intimität. Brüder und Schwestern, die miteinander aufwachsen, sind in ein Beziehungsgefüge eingewoben, das fast keine Privatsphäre erlaubt. Als kleine Kinder erlebt man unzählige Zornausbrüche, verschniefte Erkältungen und Entwicklungsschübe, etwa nach Kinderkrankheiten, hautnah mit. Diese Nähe zu einem anderen Menschen auszuhalten und sich zugleich äußerlich nicht distanzieren zu können, den Anderen also in allen seinen Facetten zu erleben und zu ertragen, fördert die Beziehungsfähigkeit. Letztlich lernen wir also mit Geschwistern den Kontakt zu anderen Menschen - und damit, wer wir später als Erwachsener sind. Interessant ist das auch im Hinblick auf spätere Liebesbeziehungen.
Wollen Sie damit sagen, die Geschwisterkonstellation sei eine Vorlage für eine funktionierende Liebesbeziehung?
So einfach ist es natürlich nicht. Ideale Modelle existieren nicht. Belegt ist durch die Geschwisterforschung allerdings tatsächlich, dass die Geschwisterkonstellation entscheidend dafür ist, wie wir uns in einer Beziehung mit einem Liebespartner verhalten. Bestimmte Konstellationen harmonieren nachweisbar besser als andere. Zum Beispiel, wenn sich Männer, die eine jüngere Schwester haben, mit einer Frau zusammentun, die selbst die jüngere Schwester eines Bruders ist.
Sind das nicht vor allem Rollenklischees?
Es sind eingeübte Rollen, die mit einem überlieferten gesellschaftlichen Ideal übereinstimmen: der Mann als Beschützer, die Frau als Prinzessin. Wer sich konform verhält, erlebt in der Umgebung häufig Zustimmung und gewinnt dadurch Sicherheit. Trifft man dann auf einen Partner, der sich im Gegenpart ebenso sicher bewegt, fühlt man sich geborgen, man hat das Gefühl "mit diesem Menschen muss ich mich nicht verstellen". Ein Mann, der mit Schwestern aufgewachsen ist, weiß vielleicht auf Anhieb besser mit gewissen Verhaltensweisen wie beispielsweise Emotionalität umzugehen als ein Mann, der gänzlich ohne Schwestern aufgewachsen ist. Umgekehrt haben jüngere Schwestern oft früh gelernt, wie sie mit einem älteren Bruder kommunizieren können.
Ihre Äußerungen dürften bei vielen für ein Stirnrunzeln sorgen.
Verständlicherweise, denn niemand möchte sich so eingeordnet wissen, als ob er nur eine vorgestanzte Rolle erfüllte. Aber das ist natürlich auch nicht der Fall. Ausschlaggebend, ob eine Beziehung glückt, sind immer viele verschiedene Faktoren. Richtig ist aber, dass wir in der Kindheit unsere wichtigsten Rollen erlernen. Das, was wir als Erwachsene können oder auch nicht, ist zu einem erheblichen Teil von dem geprägt, was wir in Kindertagen gelernt und eingeübt haben. Das kann uns nutzen oder schaden und sehr viele Leute haben das schon am eigenen Leib erfahren. Zum Glück lassen sich diese Muster erkennen und oft auch korrigieren. Andernfalls wäre der gesamte Berufsstand der Psychologen überflüssig.
Können Sie die Theorie denn persönlich bestätigen?
Da ich selbst nicht wissenschaftlich forsche, kann ich keine empirischen Zahlen liefern. Aber die Beobachtung in der näheren und weiteren Umgebung legt schon nahe, dass es mehr als Zufälle sind. Diese Verbindung aus älteren Brüdern und jüngeren Schwestern sehe ich tatsächlich in vielen langjährigen Beziehungen. Übrigens auch in meiner eigenen. Das ist mir allerdings auch erst während der Arbeit an diesem Buch klargeworden . . . (lacht).
Bei Scheidungsraten von rund 50 Prozent könnte der Blick auf die Geschwisterreihenfolge also durchaus lohnen. Wenn sich Paare trennen, sind oft schon Kinder da. Jedes zweite Kind wächst heute in einer Patchworkfamilie auf.
Richtig, aber Patchwork-, also Stieffamilien hat es schon immer gegeben. Das, was wir seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als Norm empfinden und als Ideal präsentiert bekommen, ist die klassische Kernfamilie, also Vater, Mutter und ein bis drei Kinder. Historisch betrachtet ist die Kleinfamilie, die wir heutzutage oft als Inbegriff für privaten Erfolg sehen, jedoch nur eine von vielen möglichen Familienformen. Über sehr lange Zeit in der Geschichte war sie zudem eine recht privilegierte Lebensform. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind viele Mütter bei der Geburt eines Kindes oder an Krankheiten früh gestorben, und der Vater hat erneut geheiratet und weitere Geschwister gezeugt. Und auch Väter sind an Krankheiten oder im Krieg gestorben. Stieffamilien sind also nichts Neues. Neu ist lediglich, dass sie nicht mehr in erster Linie aus Not entstehen, sondern aufgrund bewusster Entscheidungen der Eltern, etwa wenn sie sich trennen.
Patchworkfamilien werden heutzutage gern als modern und cool dargestellt. Kann dieses Familienmodell funktionieren?
Das Ideal der lässig zusammengewürfelten Patchworkfamilie aus Stief- und leiblichen Kindern existiert vor allem im großstädtischen Milieu als Alternative zur als spießig empfundenen klassischen Kleinfamilie. Der Begriff Patchwork hat sich erst zu Beginn der neunziger Jahre durchgesetzt und ist auch nur im deutschen Sprachraum üblich. Ich selbst glaube nur sehr bedingt daran, dass Patchworkfamilie auf Dauer glücklich funktionieren kann. Ich stamme selbst aus einer solchen Familie, auch wenn sie damals noch nicht so hieß, und weiß, dass es bei Menschen, die sich im Grunde fremd sind, noch sehr viel schwerer als bei leiblich Verwandten ist, miteinander eine Ebene zu finden, in der jeder ein echtes Zuhause hat. Patchworkfamilien sind immer auf die eine oder andere Art aus Trümmern gebaut. Es kann funktionieren. Aber sehr oft machen sich Eltern dabei auch etwas vor.
Was heißt funktionieren?
Dass eine gemeinsame Entwicklung möglich ist, dass ein Familiengefüge und eine Zusammengehörigkeit entsteht, die auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben kann und einen mitträgt, im besten Fall auch über den Tod der Eltern hinaus. Aber wissen Sie, was mich wirklich stört?
Nämlich?
Die überzogene Heilserwartung, die wir mit Familie verbinden. Familie gilt als sicherer Hafen, Blut ist angeblich dicker als Wasser, und leibliche Verwandtschaft gilt als die wichtigste und allein glücklich machende Beziehung, die man niemals in Frage stellen darf. Zunehmend wird diese Idealisierung auch auf Patchworkfamilien übertragen. Dabei sind es in diesen neu entstehenden Familien immer die Eltern, die das wollen, nie die Kinder. Kinder wollen Stabilität. Aber Patchworkfamilien sind wesentlich schwerer zu stabilisieren als leibliche Familien.
Sie schreiben, dass wir alle Menschen mit einer Geschichte sind. Lässt sich unsere Geschichte neu schreiben?
In gewisser Weise schon, ich würde allerdings eher sagen, dass sie sich fortschreiben lässt. Wenn die eigene Geschichte quälend war, wird man das immer irgendwo in sich tragen. Quälende Geschwisterbeziehungen können sich aber auch in späten Jahren noch verbessern. Das geschieht oft, wenn die Eltern gebrechlich werden oder sterben und man sich gemeinsam um die Angelegenheiten der Familie kümmern muss. Manchmal kommt man dann wieder ins Gespräch miteinander und kann Konflikte lösen. Darin liegt sicher eine Möglichkeit, die Geschwisterbeziehung anders fortzuschreiben.
Was für eine Schwester sind Sie heute?
Ich bin heute sicher greifbarer als früher. Ich habe mich auch noch im Erwachsenenalter oft in der Rolle der Jüngsten, Trotzigen und Abwehrenden wiedergefunden. Seit einigen Jahren gelingt es, diese Rolle ein Stück weit abzulegen. Was meine deutlich jüngeren Halbgeschwister angeht, war es auch eine Entscheidung, sie als Geschwister zu empfinden, da wir keine gemeinsame Kindheit erlebt haben. Dadurch kann ich für sie auch eine Art Familienarchiv sein. Ich weiß nicht, ob sie das nutzen möchten, doch sie haben jedenfalls durch mich die Möglichkeit dazu. Verstanden habe ich inzwischen vor allem auch, warum ich meine Familie früher oft als stressig empfand.
Und warum?
Ich hatte den Eindruck, dass es immer wieder zu Missverständnissen kam, die sich nicht beheben ließen. In einer dieser Situationen ist es meinem Mann schließlich gelungen, dafür ein sehr einfaches Bild zu finden: "Es ist, als ob deine Familie ein Geschäft hätte, in dem sie nur Hühnerschnitzel anbieten, aber du fragst immer wieder nach einem Schweinesteak." Da wurde mir bewusst, dass ich immer bemüht war, Anerkennung nach meinem Geschmack zu erzwingen. Das war ein sehr erhellender und zugleich schmerzhafter Moment, der mir deutlich gemacht hat, inwieweit man als erwachsener Mensch in eine neue Rolle hineinwachsen kann. Begriffen habe ich außerdem, dass es sich lohnt, Geschwisterlichkeit zu lernen.
Was verstehen Sie unter Geschwisterlichkeit?
Darunter verstehe ich ein Verhaltenspaket, das in Familien sowohl gelehrt als auch gelernt wird und das auf jede andere Form von Beziehung auf Augenhöhe anwendbar ist. Zu den Fähigkeiten, die wir als Geschwister gelernt haben, gehört es zu wissen, was Nähe, Verbindlichkeit und auch Uneigennützigkeit bedeuten.
In einer Gesellschaft, in der es einerseits aufgrund sinkender Geburtenraten immer weniger Geschwister gibt und die andererseits von sehr starken Verwertungsinteressen geprägt wird, ist Geschwisterlichkeit von sehr hohem Stellenwert. Oftmals erwarten wir einen Nutzen von unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Aber wir erwarten meist keinen Nutzen von einer Geschwisterbeziehung. Auch als Erwachsene können wir uns noch neue Geschwister schaffen. Zum Teil suchen wir sogar ein Leben lang nach Menschen, mit denen wir uns verwandt fühlen können. Diese Sehnsucht und Fähigkeit ist meiner Ansicht nach eine wichtige gesellschaftliche Ressource, die wir oft außer acht lassen und viel häufiger anwenden sollten.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München. Sie bietet einen Podcast über Deutsch an: www.sounds-deutsch.de
Susann Sitzler, 1970 in Basel geboren und in einer Patchworkfamilie aufgewachsen, studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Seit vielen Jahren lebt sie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin sowie Buch- und Rundfunkautorin. In ihrem neuen Buch, "Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens", (Klett-Cotta 2014), zeigt die Autorin eindrucksvoll, dass wir die Bedeutung unserer Geschwister keinesfalls unterschätzen sollten, denn Geschwister prägen unser Leben weit mehr, als uns zumeist klar ist. Mit Geschwistern lernen wir den Kontakt zu anderen Menschen und damit auch, wer wir später als Mann oder Frau sind. Ja, Geschwister haben sogar einen Einfluss darauf, welche Partner uns gefallen.
Von Susann Sitzler sind außerdem folgende Bücher erschienen: "Bauchgefühle. Mein Körper und sein wahres Gewicht" (C.H. Beck Verlag), "Grüezi und Willkommen. Die Schweiz für Deutsche." (Ch. Links Verlag), "Aus dem Chuchichäschtli geplaudert. Das ultimative Sprachlexikon für die Schweiz" (Pendo Verlag).