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Mitleid ist eine nicht nur christliche Tugend. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ihre bedrohliche Situation nachzuempfinden und die eigene Weltsicht dadurch nachzujustieren, zeichnet den klugen, ja weisen Menschen aus. Sich in sorgendem Mitfühlen fremden Artgenossen zuzuwenden, ist Zeichen von Empathie. Wie sehr die immer mehr vereinzelte Menschheit doch noch in der Lage ist, kollektives Einfühlungsvermögen zu entwickeln, zeigt derzeit die medial engmaschig begleitete Rettungsaktion der in einer Höhle eingeschlossenen thailändischen Jugendlichen. Ihr Schicksal rührt Millionen - zumindest interessiert es sie.
Die Geschichte verfügt über alle Zutaten für geeintes Mitfühlen: Bedrohung durch Naturgewalten, unschuldige Kinder, ein internationales Team, das sich unter Risiken zusammenschließt, jede Menge Hoffnung. Die Botschaft nach der Rettung: Die Menschheit ist stark und solidarisch, kann einander aus allem Ungemach befreien.
Kollektives Mitgefühl hat jedoch seine Launen. Von den vom Mittelmeer bedrohten Flüchtenden hat es sich wieder abgewandt. Sie sollen natürlich auch vor den Naturgewalten, noch wichtiger aber die europäischen Bürger vor ihnen geschützt werden. Dieser ebenfalls kollektiv heraufbeschworene Bedrohungskontext änderte das kontinentale Mitfühlen schlagartig, schrieb das Narrativ um - bis zur Kriminalisierung der Rettung von Menschenleben. Ein Messen mit zweierlei Maß, das einer sich christlich nennenden Wertegemeinschaft zumindest zu denken geben sollte.