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Die läuternde Kraft des Feuers

Von Bernhard Kathan

Reflexionen

Die Verbrennung der Toten in Krematorien ist einerseits ein allgemeiner technischer Vorgang; andererseits gibt es immer mehr individuelle Möglichkeiten bei der Urnengestaltung und -beisetzung.


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Die Trobriander pflegten ihre Leichen zu waschen, zu salben und mit Schmuck zu bedecken. Dann verstopften sie die Körperöffnungen mit Kokosnussfasern, verschnürten die Beine und banden die Arme seitlich fest. Der Leichnam wurde auf die Knie genommen, liebkost, gestreichelt, man drückte ihn mit wertvollen Gegenständen im Rhythmus unaufhörlichen Klagegesangs. Schließlich wurde die Leiche begraben, um bereits kurze Zeit später wieder exhumiert zu werden. Nach einer eingehenden Untersuchung auf Zeichen schwarzer Magie war es Aufgabe der Söhne des Verstorbenen, bestimmte Knochen aus der verfaulenden Leiche zu lösen und etwa durch das Aussaugen von Röhrenknochen zu reinigen. Dabei galt es, den empfundenen Ekel zu überwinden: "Ich habe die Radius-Knochen meines Vaters abgesaugt; ich musste mich erbrechen; ich bin wiedergekommen und habe weitergesaugt."

Es ließen sich, betrachtet man die Kulturgeschichte, absonderlichste Praktiken im Umgang mit Toten nennen, angefangen vom Verzehr bis hin zu vielfältigsten Formen der Konservierung. Besonders ausführlich beschrieb Bronisław Malinowski den Umgang der Trobriander mit ihren Toten.

Umgang mit den Toten

Italienische Friedhöfe kennen mehrstöckige Gebäude, die an Wohnblocks erinnern. Warum sollten Menschen, die in großen Wohnblocks dicht gedrängt, aber anonym nebeneinander leben, nach ihrem Tod nicht in ähnlicher Weise organisiert sein? Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Umgang mit den Toten - und darin spiegelt sich stets das Weltverständnis der Lebenden. Dank Kremierung lässt sich die Hochhausbestattung optimieren, die Nischentiefe auf 60 oder noch weniger Zentimeter reduzieren.

Heute setzt sich die Urnenbestattung auch in dörflichen Gemeinden, die nach wie vor katholisch geprägt sind, zunehmend durch. Es ist eine kostengünstige Bestattungsform, vor allem, was die Erhaltungskosten betrifft. Die zunehmende Beliebtheit der Urnenbestattung verdankt sich aber auch anderen Gründen. Es ist ein Unterschied, ob man einen Sarg oder eine Urne auf den Friedhof trägt. In einem Sarg liegt immer noch der Körper eines Toten, eine Urne dagegen dient als Behältnis einer Substanz, die bestenfalls auf den Körper eines Menschen verweist. Von "sterblichen Überresten" kann keine Rede sein.

Wollen heute manche ihre Asche auf einer Wiese, einer Alm, auf einem Berg oder im "Wald der Ewigkeit" verstreut wissen, so taucht die "reine" Natur als Gegenbild zu einer technisierten und immer unüberschaubareren Welt auf. Was zählt da schon, dass es sich bei der Verbrennung, wie sie heute in Krematorien praktiziert wird, nicht um einen natürlichen, sondern um einen technischen Vorgang handelt?

Als Betrieb unterscheidet sich ein Krematorium nicht von anderen Betrieben. Wie in jedem Unternehmen wird auch hier im Idealfall seriell gearbeitet, werden Maschinen bedient, Formulare ausgefüllt. Technik und spezialisierte Dienstleistungen garantieren eine nahezu vollkommene Befriedung der Toten.

Bis in das zweite Jahrhundert wurden Tote auch im Raum des heutigen Österreich zumeist verbrannt. Warum sich die Erdbestattung durchsetzte und die Feuerbestattung schließlich verboten wurde, ist nicht einfach zu erklären. Manche machen frühe Einflüsse östlicher Erlösungsreligionen geltend, in denen wie später im Christentum das Verbrennen Toter abgelehnt wurde, andere verweisen auf die großen Holzmengen. Beide Erklärungen überzeugen nur bedingt. In einer historisch-anthropologischen Lesart ist eher zu vermuten, dass sich die Erdbestattung deshalb durchsetzte, weil sie der Abkühlung diente. Den Toten wurde auf Friedhöfen ein eigener Raum zugewiesen, der eine Vielzahl von Tabus kannte. Stets handelte es sich um einen Bereich, der strikt von den bewirtschaftbaren Flächen wie vom öffentlichen Raum getrennt war.

Ketzer- und Hexenverbrennungen fanden hingegen noch lange später im öffentlichen Raum statt - nicht zufällig, dienten solche Hinrichtungen doch der Kanalisierung von Affekten. Die Geschichte des Todes liest sich denn auch als Geschichte des öffentlichen Raumes, aus dem der Tod zunehmend verbannt wurde.

Ob König oder Bettler, die Einäscherung geschieht auf ein und dieselbe Weise. Geschieht die Verbrennung technisch und seriell, so wäre es nur konsequent, würde die Asche in industriell gefertigte Einheitsurnen abgefüllt.

"Die persönliche Note"

Tatsächlich gibt es jedoch ein großes Bedürfnis nach individueller Ausgestaltung: "Geben Sie Ihrer Urne eine persönliche Note!" Man sucht sich den "richtigen" Trauerredner, wählt eine Urne nach eigenem Geschmack. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Individuelle aber nur als Kehrseite einer Medaille, auf deren Rückseite ein vorgegebenes Sortiment zu sehen ist. Auch im Umgang mit Toten sind wir endgültig beim Warenkatalog angelangt. Vom Billig- bis zum Designersarg, jeder nach seinen Wünschen und Vorstellungen.

Heute lassen sich manche bereits zu Lebzeiten eine Urne anfertigen, etwa der Barke in Kafkas Erzählung "Der Jäger Gracchus" nachempfunden. Der Jäger Gracchus ist bei der Gämsenjagd im Schwarzwald verunglückt. Fröhlich wie das Mädchen ins Hochzeitskleid, so schlüpft er ins Totenhemd, streckt sich auf der Barke aus, die ihn ins Jenseits tragen soll. Man braucht die Geschichte gar nicht zu lesen, da eine Barke an sich ein schönes Symbol ist. Man denkt an eine Todesbarke, die uns hinübergeleitet in eine andere Daseinsform.

Nur, in der Erzählung kommt der Jäger Gracchus nicht an, er bleibt in einem schrecklichen Raum zwischen Diesseits und Jenseits gefangen: "Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, dass ich auf der Erde blieb . . ." Eine Urne in Form einer Barke kennt keine Irrfahrt. Urnen werden abgestellt, irgendwann entsorgt. Trotz aller Pietätsbehauptungen heißt es dann: "Ruhezeit abgelaufen!"

Früher erlaubten Tod und Begräbnis nur eine sehr geringe individuelle Ausgestaltung, mochte es auch standesbedingt große Abweichungen geben. Unsere Eltern setzten ein gutes Begräbnis noch mit einer möglichst großen Anzahl von Trauergästen gleich. Hatten nicht alle in der Kirche Platz, dann galt es als besonders gelungen. Wir dagegen wollen eine Bestattung im engsten Kreis von Freunden und Angehörigen.

Dieser Wandel markiert eine entscheidende Bruchlinie in unserem Lebens- und Gesellschaftsverständnis. Dass früher eine möglichst große Anzahl von Trauergästen von Bedeutung war, das wurde nicht allein als Ehrerweisung den Toten gegenüber verstanden.

Vielmehr ging es auch um Verpflichtungen, die sich auf die nachfolgenden Generationen übertrugen. Eine Bestattung im engsten Freundes- oder Familienkreis ist in einer Gesellschaft konsequent, in der die sozialen Bindungen erodieren. Nicht zufällig verliert das allgemeine Totengedenken etwa zu Allerseelen an Bedeutung, der Ort, an dem die Asche Verstorbener deponiert wird, muss nur noch bedingt ein Friedhof sein.

Rückkehr der Geister

Die von Malinowski beschriebenen Trobriander feierten die Rückkehr der Ahnengeister. Für diese wurden Speisen zubereitet. Hatten die Ahnen nach einer gewissen Zeit den geistigen Gehalt dieser Speisen aufgezehrt, so brachte man das Essen den Nachbarn.

Dieses Beispiel bringt deutlich zum Ausdruck, dass wir es mit mehreren Achsen zu tun haben. Auf einer vertikalen Ebene geht es um das Verhältnis von Lebenden und Toten, auf der horizontalen Ebene um das Verhältnis zwischen Lebenden. Die vertikale Achse bezieht sich zudem noch auf künftige Generationen.

In solchen Vorstellungen wirken die Toten, die zumeist als ambivalent betrachtet wurden, unmittelbar in die Welt der Lebenden hinein und müssen deshalb genährt, zumindest befriedet werden. Reste solcher Vorstellungen haben sich bis in die jüngste Vergangenheit auch in heimischen Bräuchen erhalten. So war es mancherorts üblich, Verstorbenen zu Allerseelen Nahrung auf das Fensterbrett zu stellen.

Beim zuvor erwähnten Brauch der Trobriander, Knochen aus der Leiche herauszulösen und auszusaugen, handelte es sich auch um eine Verpflichtung dem Toten gegenüber: "Wir saugen seine Knochen aus, hat uns der Vater doch genährt und mit Leckerbissen gefüttert, hat er doch die Hand aufgehalten, um unsere Exkremente aufzufangen." Aber bereits die Verteilung der Knochen verweist auf Verpflichtungen den Lebenden gegenüber. Die Kinnlade etwa stand der Witwe zu.

In unserer aufgeklärten Welt haben wir dank zahlreicher Dienstleister den Tod zu einem Trauerfall gemacht, der oft nur noch mit einem einzigen Termin verknüpft ist. Dem modernen Menschen ist es gelungen, Sterben und Tod nahezu vollkommen zu befrieden. Wie sehr sich frühere Vorstellungen aufgelöst haben, macht etwa deutlich, dass es heute kein Tabu mehr darstellt, wenn in Krematorien die bei der Verbrennung anfallende Abwärme genutzt wird, etwa für die Beheizung von Verwaltungsgebäuden.

Dies wäre noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen und hätte wohl nicht weniger Abscheu erregt als die Vorstellung, Gemüse zu essen, welches auf einem Totenacker gepflanzt wurde. Wird die Abwärme genutzt, die bei der Verbrennung von Leichen in einem Krematorium anfällt, so wird nichts einverleibt. Es wird nichts verzehrt. Wärme ist neutral. Verbrennung wird mit Reinigung assoziiert. Darin klingt die alte Vorstellung von der läuternden und verwandelnden Kraft des Feuers an. Die Nutzung der Abwärme von Krematorien ist in einer Zeit konsequent, in der sich die fossilen Energiereserven erschöpfen. Der moderne Mensch, hemmungslos im Umgang mit Ressourcen, betrachtet seinen Körper als Recyclingobjekt.

Während wir die Toten Dienstleistern überlassen, hat die Beschäftigung mit dem Tod Konjunktur, was nicht zuletzt zahllose Publikationen zum Thema belegen. Wie erwähnt, lassen sich manche bereits zu Lebzeiten Särge und Urnen nach ihren Wünschen anfertigen. Eine kräuterkundige Freundin bestellte sich bei einem Tischler einen Sarg, den sie bis zu ihrem Tod als Kräutertruhe nutzen kann. Es versteht sich von selbst, dass sie auf Kräutern gebettet begraben werden will.

Warum nicht auch das Totenhemd selbst anfertigen? Dieses selbst zuschneiden, nähen - um für den Tod gerüstet zu sein.

Bernhard Kathan, geboren 1953, lebt als Sozialwissenschafter, Publizist und Künstler in Innsbruck. Er ist Betreiber des HIDDEN MUSEUM. www.hiddenmuseum.net