In der ostchinesischen Küstenstadt Tianjin entsteht ein neues Manhattan.
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Tianjin. "Die Baustelle darf man nicht betreten, das geht nur im Rahmen von organisierten Touren." Etwas unwirsch weisen Sicherheitsbeamte neugierige Besucher ab, die sich für den neuen Finanzbezirk der ostchinesischen Küstenmetropole Tianjin interessieren. Sie dürfen dann mehrere hundert Yuan dafür bezahlen, um einige Baugruben und Kräne zu sehen und ansonsten von wenig ziemlich viel. Doch innerhalb von zehn Jahren sollen hier im Bezirk Yujiapu mindestens 47 neue Wolkenkratzer entstehen und, wenn es nach dem Willen der Behörden geht, nichts weniger als Chinas neues Manhattan. U-förmig angelegt, soll das knapp vier Quadratkilometer große Areal nicht nur so ähnlich aussehen wie das Original, sondern baulich auch den Feng-Shui Kriterien entsprechen, damit die Geldquellen entsprechend ergiebig sprudeln. Und das wird nötig sein, wenn sich das auf den Krediten der Staatsbanken basierende, riesige Investitionsvolumen eines Tages rechnen soll.
Daran zweifelt Vincent Lee, einer der Projektentwickler, keine Sekunde: "Yujiapu wird das größte Finanzzentrum der Welt mit einer Bürofläche von 9,5 Millionen Quadratmeter. Das Hauptgebäude wird eine Kopie des Rockefeller Centers, ein dreistufiger, unterirdischer Bahnhof wird den Stadtteil über Hochgeschwindigkeitszüge mit Peking und dem 50 Kilometer entfernten Zentrum von Tianjin verbinden." Lee geht davon aus, dass sich das Viertel ähnlich rasant entwickeln wird wie Pudong, ein ehemaliges Fischerdorf in Shanghai, das in den 90er Jahren regelrecht explodiert ist.
Das bessere Shanghai?
Überhaupt sieht sich Tianjin oft als eine Art besseres Shanghai, eine Stadt, deren wirtschaftliche Entwicklung selbst für chinesische Verhältnisse atemberaubend wirkt: Während das durchschnittliche Wachstum in China in den letzten Dekaden bei jährlich 10 Prozent lag, meldete die 11 Millionen-Einwohner-Metropole im letzten Jahr 17,4 Prozent. Auch im Zentrum der Stadt wird nach wie vor überall gebaut, einer der im Bau befindlichen Wolkenkratzer schickt sich gerade an, zum höchsten Bauwerk Chinas zu werden. Der Mann, der für viele dieser Projekte verantwortlich ist, wurde für seinen Einsatz gerade mit einem Sitz im Ständigen Ausschuss des Politbüros, also im höchsten Machtgremium Chinas belohnt: der bisherige Parteichef von Tianjin, Zhang Gaoli.
Der 65-jährige Zhang, der dem designierten Premier Li Keqiang als ausführender Ministerpräsident zur Seite stehen soll, gilt als Befürworter staatlich gelenkter Investments - eine Strategie, die innerhalb der chinesischen Machtelite stets gerne gesehen wird. Zwar bemühte sich Zhang, durch Steuererleichterungen auch dem Einzelhandel auf die Sprünge zu helfen, sein Hauptaugenmerk galt jedoch vor allem Prestige-Projekten wie der 2000 Quadratkilometer großen Sonderwirtschaftszone "Binhai New Area", in der sich globale Wirtschaftsgrößen wie Airbus und Caterpillar angesiedelt haben. Während der Finanzkrise 2009 kam Tianjin schneller auf die Beine als andere chinesische Städte, allerdings zu einem hohen Preis: 2007 lag der Schuldenstand der Stadt noch bei 11 Milliarden Euro, Ende 2011 waren es 37 Milliarden Euro. Da der Schwerpunkt der Investitionen auf Immobiliengeschäften lag, stehen die stadteigenen Unternehmen nun unter Verkaufs- oder Vermiet-Druck, um ein Finanzdebakel zu verhindern. Die Warnhinweise sind unübersehbar: Während der Fluss Hai He in der Nacht zwar von der bunten Skyline in allen Lichtern erstrahlt, bleibt es hinter den Fenstern der Gebäude wie dem neuen Finanzzentrum "Tianjin Global Finance Centre" doch eigentümlich finster. Im sogenannten "Italian Quarter", einer am Reißbrett entworfenen Amüsiermeile, die angeblich an italienische Städte erinnern soll, ist es an einem Samstagabend geradezu menschenleer.
Aufräumen in Tianjin
Auf Sun Chunlan, die neue Parteichefin von Tianjin, wartet jedenfalls viel Arbeit. Sie wurde als eine von nur zwei Frauen in das neue Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas gewählt und war zuvor Parteichefin der wirtschaftlich starken Provinz Fujian im Südosten des Landes. Sie gilt als Intimfeindin des gestürzten Skandalpolitikers Bo Xilai, der sich angeblich über die Herkunft der 62-Jährigen lustig gemacht haben soll, denn Sun begann ihre Karriere als gewöhnliche Arbeiterin in einer Uhrenfabrik. Mit verbissenem Ehrgeiz arbeitete sie sich nach oben, und als sie 2001 die Hafenstadt Dalian ausgerechnet von Bo übernahm, ließ sie alle dessen Günstlinge umgehend rauswerfen. Nach der Beförderung von Zhang Gaoli muss sie nun auch in Tianjin aufräumen, denn viele seiner Projekte waren erst in der Startphase beziehungsweise auf halbem Weg wie beispielsweise der Finanzbezirk Yujiapu.
Chinesische Wirtschaftsexperten sind besorgt und sprechen von einem "nicht nachhaltigen" Wachstum, von dem außerdem die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen sei - bei den tatsächlich verfügbaren Einkommen lag Tianjin in einer aktuellen Statistik nur knapp vor Tibet an zweitletzter Stelle. Ein älterer Mann, der am Ufer des Hai He spazieren geht und mit einer monatlichen Pension von 185 Euro auskommen muss, steht hier geradezu exemplarisch: "Diese Dinge", sagt er mit Blick auf die leuchtende Wolkenkratzer-Fassade, "diese Dinge sind doch nicht für die gewöhnlichen Leute. Ein paar Reiche haben dort drinnen Spaß, aber wir müssen uns Sorgen machen, wenn die Preise für Kohl und Zwiebel steigen." Noch hat Tianjin einen weiten Weg bis zur kosmopolitischen Metropole vor sich. Einige werden dabei wohl auf der Strecke bleiben.